Paolo Giordano, Die Einsamkeit der Primzahl
„Primzahlen sind nur durch 1 und durch sich selbst teilbar. Sie haben ihren festen Platz, eingeklemmt zwischen zwei anderen, in der unendlichen Reihe natürlicher Zahlen, stehen dabei jedoch ein Stück weiter draußen. Es sind misstrauische, einsame Zahlen. Deshalb fand Mattia sie auch wunderbar ….. In einem Seminar im zweiten Semester hatte Mattia gelernt, dass einige Primzahlen noch einmal spezieller als die anderen sind. Primzahlzwillinge werden sie von Mathematikern genannt: Paare von Primzahlen, die nebeneinanderstehen oder genauer, fast nebeneinander, denn zwischen ihnen befindet sich immer noch eine gerade Zahl; die verhindert, dass sie sich tatsächlich berühren….. Für Mattia waren sie beide, Alice und er, genau dies, Primzahlzwillinge, allein und verloren, sich nahe, aber doch nicht nahe genug, um sich wirklich berühren zu können.“
Mattia und Alice passen perfekt zueinander:
Beide haben in ihrer Kindheit ein Erlebnis gehabt, das sie zeichnete. Alice ist beim Skilaufen verschüttet worden und hat ein lahmes Bein davon getragen; Mattia hat seine Zwillingschwester im Park abgesetzt, weil er sich der geistig Behinderten schämte, und dann war sie unauffindbar verloren. Sie zeichnen ihren Körper: Alice ist magersüchtig, Mattia verletzt sich an den Händen. Als sie sich kennen lernen, glauben die Lesenden, die beiden steuern auf ein Happy End zu, und das wäre in ihrem Fall auch so berechtigt, wie sonst selten.
Die Pubertierenden und dann junge Erwachsene treffen sich. Sie wissen beide, dass sie sich näher sind, als sie es zeigen. Dabei ist Alice draufgängerischer als er. Sie inszeniert sich z.B. als Braut, indem sie das alte Brautkleid ihrer Mutter anzieht, und zwingt ihren Freund, als Bräutigam aufzutreten. Mattia hat fast autistische Züge, er ist hochbegabt, jedenfalls in Mathematik, was er auch studiert. Nach dem Ende seines Studiums wird ihm ein Forschungsstipendium an einer ausländischen Universität angeboten. Er geht, und Alice heiratet. Als ihre Ehe gescheitert ist, ruft sie ihn noch einmal zurück. Sie bringt ihm Autofahren bei, sie entgehen einem schweren Verkehrsunfall. Und sie küssen sich. Ist das das Happy End? Nein – „Gleichgültig, schweigend, hatte er so lange gewartet, bis es irgendwann zu spät war.“
Der Roman spielt mit den Erwartungen der Lesenden, und wir erfahren, dass wir so konditioniert sind, dass wir in der Literatur Erwartungen auf einen „guten Ausgang“ haben, die wir der Realität nicht abverlangen.
Giordanos Roman ist spannend, er nimmt einen bis zur letzten Seite mit. Seine Sprache ist sparsam, sparsam wie seine HeldInnen.
Giordano ist 1982 in Turin geboren. Er studierte Physik. Für „Das Geheimnis der Primzahlen“ bekam er den wichtigsten Literaturpreis Italiens.
2011 als Heyne Taschenbuch erschienen. 363 Seiten
Mehr Literaturtipps findet ihr hier.
Schreibe einen Kommentar