Als Ika Hügel-Marshall an einer Berliner Universität ein Seminar über Identität gibt, ruft ihr eine weiße Frau dazwischen. „Du bist für mich keine Schwarze.“ Ika Hügel-Marshall antwortet ihr:
„Ich nenne mich stolz Schwarze, Afrodeutsche oder Schwarze Deutsche, auch wenn es weißen Deutschen, wie dir zum Beispiel, nicht gefällt.“
Ihre Antwort richtet sich nicht bloß an die Seminarteilnehmerin. Sie wendet sich direkt an ihre Leser*innen. Ich fühle mich als weiße Frau angesprochen.
Von Geburt an Außenseiterin
In ihrer Autobiografie Daheim unterwegs. Ein deutsches Leben zieht Ika Hügel-Marshall ein Résumé ihres Lebens als „Besatzungskind.“ Sie ist die Tochter einer weißen Frau. Ika wächst aber als Schwarze auf – oder als N****, als Mischlingskind, eben alles, was den weißen Menschen um ihr gerade passt. Ihren Schwarzen Vater lernt sie erst mit 46 kennen.
„Im März 1947 wurde ich geboren. Meine Ankunft ist im engsten Familienkreis gefeiert worden, leise und ängstlich, während die Außenwelt meinen und unseren Ausschluß aus der Gesellschaft längst beschlossen hatte.“
Herr Siebert vom Jugendamt sieht für die fünfjährige Ika keine Zukunft. Es wird erwartet, dass sie irgendwann Alkoholikerin oder psychisch labil wird und sowieso „Freiwild“ für Männer sein wird. Für das vermeintliche Wohl ihrer weißen Schwester Lisa wird Ika Hügel-Marshall in die „Kinderheimat Gotteshütte“ gegeben. Ihre Familie darf sie nur über die Sommerferien besuchen.
Im Heim wird sie auf schwerste Weise missbraucht. Wenn sie sich beim Essen übergibt, wird ihr ihr Erbrochenes zwangsweise in den Mund gelöffelt. Wenn sie weint, wird sie bestraft. Ihre Kreativität und schulischen Leistungen werden ohnehin nicht wertgeschätzt. Einmal muss sie einen Exorzismus über sich ergehen lassen, der Narben hinterlässt.
„Jahrelang habe ich Alpträume und fürchte mich vor mir selbst und vor der Dunkelheit.“
Überleben lernen
Im Heim wird ihr beigebracht sich selbst zu hassen. Die Erzieherinnen glauben nicht, dass sie eine Zukunft hat, außer höchstens in einem Pflegeberuf. Andere Heimkinder halten nicht mit rassistischen Bemerkungen zurück. Was Ika Hügel-Marshall dabei lernt, ist Überlebenskunst.
„Wie kann ich erkennen, daß mir Schwarze Identität verwehrt wird und daß Chancengleichheit in dieser Welt für mich nicht gilt – ohne aufzugeben?“
Daheim unterwegs ist ein Buch übers Überleben. Und irgendwann wird es ein Buch übers Leben. Nachdem sie ihre mittlere Reife nachholt, nimmt sie Arbeit in einem Kinderheim auf. Dort findet sie Umstände, die sie an ihre Kindheit in der Gotteshütte erinnern. Doch Ika Hügel-Marshall lässt die Leiter*innen des Heims nicht ohne Kritik walten. Sie rebelliert und setzt sich für die Kinder ein. Schließlich nimmt sie das Studium der Sozialpädagogik auf und setzt ihr Wissen in der Arbeit im Heim um.
Gemeinsam in der fremden Heimat
Ika Hügel-Marshall kommt in den Kontakt mit der Frauenbewegung. Dort findet sie eine Gemeinschaft, mit der sie gegen Ungerechtigkeit kämpfen kann. Aber irgendwann merkt sie, dass sie wieder eine Schwarze Frau unter weißen Frauen ist. Diskussionen über Rassismus sind den weißen Feministinnen unliebsam. „Laß doch mal deine Hautfarbe aus dem Spiel,“ kriegt sie zu hören.
Eines Tages drückt ihre Taekwandolehrerin und Freundin ihr einen Artikel über ein Treffen von Afrodeutschen in die Hand. Ika Hügel-Marshall ist skeptisch. Weiße ändern sich für sie nicht. Die Ausgrenzungen sind ihr vertraut. Sie weiß, wie sie darauf reagieren kann. Wie kann sie mit dem Schmerz von anderen Schwarzen umgehen?
Schließlich entscheidet sie sich doch, sich zum ersten Mal mit anderen Schwarzen in Deutschland zu treffen. Das Treffen versetzt sie in Sprachlosigkeit.
„Wie betrunken verlasse ich unsere Treffen und brauche immer ein paar Tage, um wieder nüchtern zu werden. 39 Jahre in völliger Isolation aufgewachsen zu sein, nur mein eigenes Schwarzes Gesicht gesehen zu haben, kommt mir genauso unglaublich vor wie die Tatsache, jetzt nicht länger alleine zu sein.“
Sie wird Teil einer Gemeinschaft. Sie entdeckt eine Liebe für sich selbst und ihre Hautfarbe. Und sie kann ihrer Wut endlich Worte verleihen. Bald wird sie aktiv in der entstehenden Afrodeutschen Bewegung und wird Mitglied von ADEFRA, dem Verein für Afrodeutsche Frauen.
Nachdem Daheim unterwegs 1998 veröffentlicht wurde, ging Ika Hügel-Marshalls Leben natürlich weiter. So liest man auf ihrer Website, dass sie in den vergangenen Jahren Lesungen gab, psychologische Beratung anbietet und nebenher als selbstgelernte Künstlerin tätig ist. Ihre Grafiken zieren unter anderem die Buchcover von Sammlungen von Audre Lordes Gedichten. Schon vor der Veröffentlichung von Daheim unterwegs veröffentlichte sie einige Aufsätze mit anderen Aktivist*innen, unter anderem mit May Ayim.
Für mehr Sichtbarkeit
Daheim unterwegs ist sicherlich nicht nur ein Buch für weiße Leser*innen, aber als weiße Frau und weiße Feministin fühlte ich mich beim Lesen oft direkt angesprochen. Es ist ein Buch, das wichtige Einblicke bietet und Rassismen in Deutschland sichtbar macht. Es fordert zur Reflektion auf. Allerdings erhielt das Buch bis jetzt wenig Anerkennung in Ika Hügel-Marshalls Muttersprache. Auf Ika Hügel-Marshall wurde ich aufmerksam, als ich ihre englischsprachige Wikipediaseite entdeckte. Eine deutsche Seite gibt es für sie bis jetzt noch nicht. Im englischsprachigen Raum, in den USA um genau zu sein, erhielt ihr Buch auch eine Auszeichnung, den Audre Lorde Literary Award. Dort führt sie auch öfter Lesereisen durch. In den USA ist das Buch bekannt unter dem Titel Invisible Woman, sicherlich eine Anlehnung an den Roman Invisible Man von Ralph Ellison. In Deutschland scheint Ika Hügel-Marshall immer noch ein wenig unsichtbar zu sein. Das darf sich gerne ändern!
von Kathy Hemken
Schreibe einen Kommentar