Alina Herbing: Niemand ist bei den Kälbern
Christin ist Anfang zwanzig und wohnt irgendwo im Niemandsland in Meck-Pomm. Sie ist zu ihrem Freund Jan gezogen, und viele Alternativen hatte sie auch nicht: keine Ausbildung, Vater Alkoholiker, Mutter abgehauen. Eigentlich will sie ja auch mit Jan zusammen sein, aber nicht mit allem, was an ihm dranhängt: ein Milchviehbetrieb in ständiger Finanznot, sein autoritärer Vater, der nichts von ihr hält und sie herumkommandiert, dessen blasse schwangere Lebensgefährtin; der Stallgeruch, der kaputte Trecker und das ewige Melken zu nachtschlafender Zeit. Kirschlikör, kleiner Feigling und anderer Schnaps sind ihre verlässlichen Begleiter. Sie mogelt sich mit kleinen oder auch dicken Lügen durch den Alltag. Die Dorffeste mit den herumhängenden Jugendlichen machen die Tristesse auch nicht besser, es wird gesoffen, gekokst und ´ne schnelle Nummer geschoben, so war es bisher auch bei Christin: Niemand kommt raus, nichts ändert sich für sie, weder mit noch ohne Jan.
Ein Bild einer jungen Frau, die vor allem weiß, was sie nicht will
Der Techniker Klaus aus Hamburg, der die Windkraftanlage im Dorf repariert, ist für Christin eine vage Hoffnung auf etwas anderes – deutlich älter als sie, verheiratet, aber eben von draußen, aus der Großstadt. Sie lässt sich von ihm im Auto mitnehmen, sucht in den nächsten Tagen weiter den Kontakt und – wie ihre Freundin Caro zu sagen pflegt: „Wenn man einen Mann ins Bett kriegen will, kriegt man ihn auch ins Bett.“ Sie lässt sich auf ihn zutreiben ohne klare Vorstellung, schläft mit ihm und nimmt seine sadistischen Sexpraktiken in Kauf als Preis für den Traum von einem Aufbruch aus der Perspektivlosigkeit. Sie ist nicht gerade verwöhnt mit Liebe und Freundlichkeit, auch Jan fasst sie nicht mit Samthandschuhen an, und Christin selbst hat ihre dunklen Punkte: ihre gut verpackte Destruktivität, wenn es keiner sieht: ein Treckerkabel durchtrennen, ein schwaches Kalb ersticken, den Hund vergiften und schließlich die noch größere Katastrophe.
Alina Herbing bleibt konsequent bei ihrer Protagonistin und begleitet sie durch die wenigen Tage und Wochen, in denen der Roman sich entwickelt. Faszinierend, wie ihr das gelingt. Sie spricht nicht über Christin, sie erklärt sie nicht, sondern lässt sie machen – so zeichnet sie mit sparsamen Strichen das Bild der jungen Frau, die vor allem weiß, was sie nicht will.
Kein Ort für Freundlichkeit
Die Ödnis dieses Landlebens, die Freudlosigkeit, Langeweile und letztlich Gewalttätigkeit benötigen keine Übertreibung. Ihre lakonische minutiöse Schilderung macht den Grusel noch drastischer. Es verwundert beim Lesen nicht, dass es keine zufriedenen Menschen in dem Dorf gibt, aber für große Dramatik reicht es auch bei niemandem in der Geschichte. Die Freundschaft zwischen Kristin und Caro ist noch die netteste Beziehung, Liebe kommt eigentlich gar nicht vor, und Christin hat auch keine Vorstellung davon, was das sein könnte – woher auch. Immerhin gibt sie nicht auf und treibt davon weg, ohne zu wissen, wohin, mit dem, was ihr zur Verfügung steht. Und auch das schafft sie nur, indem sie sich selbst das Bleiben unmöglich macht. Keine wirkliche Strategie, aber etwas Besseres als diese Form von Landflucht gibt es nicht, da kennt Alina Herbig keine Gnade, weder für ihre Figur noch für uns LeserInnen.
Schwer verdaulich, aber äußerst überzeugend.
Unbedingt lesenswert (wenn man weit genug vom Land weg ist).
Über die Autorin
Alina Herbing ist 1984 in Lübeck geboren , hat Geschichte und Germanistik in Greifswald und Berlin studiert, Neuere deutschsprachige Literatur in Berlin sowie Kreatives Schreiben, Kulturjournalismus und Literarisches Schreiben in Hildesheim.
Das Buch ist 1917 im Arche Verlag erschienen, hat 256 Seiten und kostet 19,98 €. Es ist in der Bremer Stadtbibliothek ausleihbar.
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