Kosten über Kosten über Kosten. Ohne Geld ist man in unser kapitalistischen Gesellschaft so gut wie aufgeschmissen. Nicht nur die Mietpreise steigen inflationär an, sondern auch Lebensmittel, Strom und Wasser. „Preisexplosion bei Raps und Kartoffeln“, „Warum die Mieten in Schleswig-Holstein kräftig steigen dürften“ oder „Gas und Strompreise explodieren”. Zur Zeit wird mensch erschlagen mit Nachrichten über Preisanstiege aller Art. Was machen Armutsbetroffene in so einer Situation? Mehr als 13 Millionen Menschen sind in Deutschland von Armut betroffen und die Armutsquote sinkt nicht. Das entspricht 16,1 Prozent! Die Corona-Pandemie hat dabei lang angelegte Armutsrisiken erst sichtbar gemacht.
Gerade weiblich gelesene Personen sind vermehrt in schlechten Arbeitsverhältnissen beschäftigt und damit auch stärker armutsgefährdet als männlich gelesene Personen. Doch das liegt nicht nur an der Gender-Pay-Gap, sondern ist viel komplexer. Das spiegelt sich ebenfalls im Problem der Altersarmut wider.
Es fängt schon früh an
Der Bildungserfolg von Kindern hängt häufig noch stark vom sozioökonomischen Hintergrund der Eltern ab. Kinder, die aus ärmeren Verhältnissen kommen, haben nicht den selben Zugang zu Bildung wie Kinder aus reicheren Verhältnissen. Diese Tatsache bestimmt den Alltag vieler Kinder. In Deutschland sind es fast drei Millionen Kinder. Drei Millionen Kinder, die weder wissen, ob sie zum nächsten Schulausflug mitgehen können, geschweige denn zu einer Klassenfahrt, noch ausreichend Schulmaterialien haben. An Freizeit- oder Bildungsangeboten teilzunehmen ist in Deutschland leider immer noch etwas, was nicht für alle Kinder Realität ist.
“Kati (18), sag mal was für dich Glück ist: …Schulterzucken, ‘Das weiß ich nicht wirklich'” (Berliner Rand, Dokumentarfilm 2010).
Die Dokumentation “Berliner Rand” wurde zwar 2009 gedreht, ist aber mehr als ein Jahrzehnt später immer noch genauso aktuell. Der Film begleitet vier dieser drei Millionen Kinder ein Jahr lang durch ihren Alltag in Berlin. Alle vier sind in Armut oder schwierigen familiären Verhältnissen aufgewachsen und stehen jetzt an der Schwelle zum Erwachsensein. Der Film porträtiert wertfrei und mit Liebe zum Detail einen Teil unserer Gesellschaft, den viele nicht sehen wollen.
Der Einstieg in Bildung und der Zugang zu Ausbildungs-/Studienplätzen ist für weiblich gelesene Personen schlechter und schwieriger. Männlich gelesene Personen haben öfter einer hohen Bildungsabschluss als Frauen, was eine Chancenungleichheit begünstigt.
Who cares?
Ein anderer Grund, warum weiblich gelesene Personen öfter von Armut betroffen sind, ist, weil sie vermehrt schlecht bezahlte oder gar unbezahlte Arbeit leisten. Das können Mini-Jobs oder nicht existenzsichernde Teilzeitjobs sein. Arbeit wird in unserer kapitalistischen Gesellschaft als etwas gesehen, womit man Geld verdient. Verdient man kein Geld, ist es keine Arbeit. Demnach werden Haus- und Sorgearbeit erst gar nicht als Arbeit angesehen. Jahrhundertlange geschlechterspezifische, unfaire Normen liegen auf weiblich gelesenen Personen. (Wenn euch das Thema interessiert, empfehle ich euch das Buch “Süss – eine feministische Kritik” von Ann-Kristin Tlusty. Sehr lesenswert!!). 90 Prozent der pflegenden Familienangehörigen sind weiblich gelesene Personen. Für den Staat ist das super, denn hierbei wird eine Menge Geld gespart. Für die weiblich gelesen Personen eher weniger, denn in vielen Fällen ist Altersarmut so vorprogrammiert.
Diese ungleiche Verteilung führt (unter anderem) dazu, dass Frauen bis zu einem Viertel weniger Geld als Männer verdienen. Logisch, wenn ZWEI DRITTEL deiner Arbeit nicht bezahlt wird (zum Vergleich, bei Männern sind es nur ein Fünftel), dann wirkt sich das auch auf dein Einkommen aus. Das erklärt auch, warum Frauen im Durchschnitt fast 50 Prozent weniger Rente als Männer beziehen. So sind manche weiblich gelesene Personen zwar erwerbslos, keineswegs aber arbeitslos. Und das ist ein Punkt, den wir verstehen müssen.
Ist Altersarmut weiblich?
Marie-Luise Stoll hat ihr ganzes Leben lang gearbeitet, die Kinder aufgezogen und geht heute trotzdem zur Tafel. Die Rente reicht einfach nicht aus. Das ist kein Einzelfall. Die Studie der Uni Köln “Das Einkommen der Hochaltrigen in Deutschland“ beschäftigt sich genau mit diesem Thema. “Die Armutsquote der ab 80-Jährigen Frauen [ist] um über 9 Prozent-Punkte höher als bei Männern”. Die Rente stellt hierbei ein Spiegelbild der Erwerbstätigkeit, der strukturellen Diskriminierung weiblich gelesener Personen und traditioneller Geschlechterrollen dar. Rente funktioniert nach dem Prinzip der Teilhabeäquivalenz. Nochmal verständlicher: Je mehr Geld ein Mensch im Laufe des Erwerbslebens in die Rentenkasse einzahlt, desto höher sind dann seine Rentenansprüche. Was bedeutet das in der Konsequenz für weiblich gelesene Personen? Na logisch, einfach mehr Geld verdienen…Tja, wenn’s bloß so einfach wäre. Woran liegt es also?
Fun Fact, der eigentlich kein lustiger Fact ist: Deutschland gehört mit Österreich zu den europäischen Ländern mit der höchsten Gender-Pay-Gap. Demnach liegt Deutschland auch bezüglich der Gender-Pension-Gap, also der geschlechterspezifische Rentenlücke, sehr weit vorne. Laut der Deutschen Rentenversicherung beziehen Männer eine durchschnittliche Rente von 1.148 Euro pro Monat, während es bei Frauen lediglich 711 Euro sind. Das sind 437 Euro weniger im Monat. Weiblich gelesene Personen können Diskriminierung aber auch noch an anderer Stelle erfahren. Die Zugehörigkeit zu einer rassistisch diskriminierten Gruppe erhöht das Armutsrisiko immens. So muss dringend ein Diskriminierungsschutz auf rechtlicher Ebene eingeführt werden, damit weiblich gelesenen Personen, Menschen mit Behinderung, People of Color und Geflüchteten durch Behörden ein Schutz gegenüber Diskriminierung geboten wird. Diskriminierung lässt sich auf all diesen Ebenen wiederfinden und ist somit intersektional. Dieses Verständnis muss auch in der Gesamtgesellschaft ankommen.
„[…], dass es den Menschen egal ist, dass es uns so scheiße geht. Was glauben sie, was es da für ein Elend gibt? Kranke und wirklich kaputte Menschen, die kommen dahin [zur Tafel], nur weil sie was zu Essen brauchen” (Marie-Luise Stoll, defacto).
Eine ausreichende Absicherung im Alter, bei Krankheit und Erwerbslosigkeit ist nur bei durchgehender Vollzeiterwerbstätigkeit und bei einem durchschnittlichen Einkommen gewährleistet. Dies entspricht schlichtweg nicht der Lebensrealität vieler weiblich gelesener Personen.
Bremen als Vorreiterin in Sachen Geschlechtergleichheit auf dem Arbeitsmarkt?
Eher nicht. Disclaimer: Meine Recherche in diesem Abschnitt basiert auf einer Analyse der Friedrich-Ebert-Stiftung “Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt – Wo steht Bremen?“. Diese verwendet eine binäre Sprachweise, die ich dadurch reproduziere. Ich weiß selbstverständlich, dass dieser binäre Geschlechtertypus ein gesellschaftlich etabliertes Konstrukt ist und die Realität nicht widerspiegelt.
Die Gleichstellung auf dem Bremer Arbeitsmarkt kann und muss verbessert werden. Nicht nur sind Frauen weniger in den Arbeitsmarkt integriert (fünf Prozent weniger als alle anderen erwerbstätigen Frauen Deutschlands), die Beschäftigungsquote der Frauen liegt in Bremen bei nur 58 Prozent. Die Beschäftigungsquote spiegelt wider, “wie hoch die aktive Beteiligung der Frauen im Arbeitsmarkt ist.” Im Vergleich: Die deutschlandweite Beschäftigungsquote der Frauen liegt bei 64 Prozent. Die Situation für Frauen ist auf dem Bremer Arbeitsmarkt sehr ungünstig. Hinzukommend, ist die ,,Arbeitslosenquote von Frauen im Land Bremen mit 10,1 Prozent mehr als doppelt so hoch wie die Arbeitslosigkeit von Frauen im Bundesdurchschnitt”. Mehr als doppelt so hoch.
Des Weiteren ist die Gender-Pay-Gap in Bremen um ein Fünftel höher als im Rest von Deutschland – sie liegt bei 22 Prozent – und der Anteil von Frauen in Führungspositionen ist sehr viel geringer als der von Männern. Das ist die Realität. Daran muss sich etwas ändern und zwar so schnell wie möglich. Es muss in gezielte arbeitspolitische Förderungs-, Umschulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen investiert werden, um die Situationen von Frauen auf dem Bremer Arbeitsmarkt gerechter zu gestalten.
Laut Andrea Quick von der Zentralstelle Landesfrauenbeauftragte Bremen existieren bereits einige Programme zur Verbesserung der Situation armutsgefährdeter Frauen, beispielweise Alleinerziehende, in Bremen.
“Seit ein paar Jahren stehen Alleinerziehende […] ganz oben auf der politischen Agenda, nicht zuletzt auch, weil wir immer wieder darauf hingewiesen haben, dass sie besonders armutsgefährdet sind und Unterstützung brauchen. Bremen hat im Rahmen des ESF (Europäischer Sozialfonds) Programme aufgelegt, die sich explizit an Alleinerziehende richten und eine Orientierung in den Arbeitsmarkt bieten. VIA (Vermittlung und Integration in den Arbeitsmarkt) ist ein Projekt, das Alleinerziehende niedrigschwellig erreicht, sie berät und in Qualifizierung, Umschulung, Aus- oder Weiterbildung oder auch direkt in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt […]. Aus dem Bremen-Fonds werden Programme gefördert, die sich an Frauen richten, wie z.B. Perspektive Arbeit für Frauen (PAF) und Frauen in IT (FiT). All diese Unterstützungsprogramme lösen noch nicht das Problem, dass immer noch zu viele Frauen unter ihrer Qualifikation beschäftigt sind, zu wenig Aufstiegsmöglichkeiten haben (vor allem wenn sie in Teilzeit arbeiten) und häufig die Berufe wählen, die immer noch viel zu schlecht bezahlt sind (wie z.B. Erziehungs-, Gesundheits- und Pflegeberufe, Einzelhandel)”.
Aus diesem Grund sieht Andrea Quick Ansatzpunkte für weitere Maßnahmen. Die Gender-Pension-Gap und die Gender-Pay-Gap müssten langfristig verringert werden. Dazu bedürfe es zum einen der Aufwertung dieser Berufe durch angemessene Bezahlung, zum anderen einer geschlechterneutralen Berufsorientierung. Weiterhin sei es nötig, frühzeitig über die Folgen bestimmter Entscheidungen im Lebensverlauf aufzuklären, beispielsweise ein langer Ausstieg aus dem Beruf nach der Geburt eines Kindes. “Auf Bundesebene gilt es, die Anreize für das „Zuverdienstmodell“ abzuschaffen, als allererstes das Ehegattensplitting. Denn dadurch manifestiert sich die traditionelle Rollenaufteilung, was so lange funktioniert, wie die Partnerschaft bestehen bleibt, aber nach einer Trennung kommt dann oft das böse Erwachen für die Frauen. Eine eigenständige existenzsichernde Erwerbstätigkeit für Frauen und Männer muss das Ziel sein, und dazu gehört auch, Arbeitszeiten neu zu denken (z.B. kurze Vollzeit) und die Verteilung von CARE-Arbeit innerhalb der Familie”.
Umdenken und Handeln
An das Armutsproblem in Deutschland muss durch strukturelle und politisch forcierte Veränderungen herangegangen werden, sonst wird sich auf Dauer nichts ändern. Bewegungen wie #IchbinArmutsbetroffen sind essentiell, da sie nicht nur die Armut-Scham Spirale reduzieren, sondern auch weil sie Betroffenen eine Stimme geben. Das Armutsproblem weiblich gelesener Personen ist jedoch wie vorher erwähnt ein strukturelles Problem und solch eines kann nicht durch alleiniges Lautwerden gelöst werden, sondern es muss strukturelle Verbesserungen geben. Das bedeutet nicht, dass Lautwerden nicht wichtig ist. Sich zu beklagen und auf Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen ist der erste Schritt in die richtige Richtung, aber dabei darf es nicht bleiben! Wir müssen über Konzepte wie das bedingungslose Grundeinkommen und die Abschaffung des Ehegatten-Splittings nachdenken. Existenzielle Absicherung im Alter sollte kein Luxus sein.
#IchBinArmutsbetroffen
Hi, ich bin Anni, 39 und habe die Schnauze voll!
Ich lebe von HartzIV und es reicht ganz einfach nicht!
Nein, ich kann keine weiteren Kosten senken. Nein, ich kann nicht auf das spritsparende Auto /— Anni (@Finkulasa) May 17, 2022
Warum schreibe ich eigentlich über Altersarmut? Ich bin zwar eine Frau, muss mir aber aufgrund meiner Privilegien wenig Sorgen darüber machen, wie ich im Alter über die Runden komme. „Ich muss nicht an meine Rente denken – aber ich kann”. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Viele Menschen haben diesen Luxus nicht. „Ich habe gerade keine Existenzängste, mir fällt es leicht, jenseits von Stigma und Scham über etwas zu schreiben, von dem ich selbst nicht betroffen bin.”
Es braucht ein Umdenken in unserer Gesellschaft. Ein Hinterfragen traditioneller Normen und Regeln. Aber es braucht auch einen strukturellen, rechtlichen Wandel, um den Schutz von (mehrfach) marginalisierten Gruppen vor Armut sicherzustellen. Allen Menschen muss ein würdevolles Leben geboten werden und dazu gehört Existenzabsicherung.
Lina
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