Eine Krankheit, die plötzliche Pflegebedürftigkeit werfen neue Fragen auf. Die Lebenssituation ändert sich. Eine künstlerische Annäherung an das Thema Demenz wagt das Theater Bremen mit dem Stück Amour. Das besondere daran ist die Verschmelzung von Tanztheater und Schauspiel.
Amour handelt von Wiederholung, Versuch und Scheitern
Zwei Sprossenwände, Basketballkörbe, Dusche, eine kleine kabinenartige Bühne der Musikerin: das wird der Schauplatz der kommenden 100 Minuten Amour sein. Auch einen Fernseher gibt es. Sitzgelegenheiten ab und an. Die Szenerie startet mit einer quälenden Szene einer einfachen Bewegungsfolge. Die Bewohnerin eines Pflegeheims versucht eine Tür und eine Rampe mit ihrem Rollator zu bewältigen. Das geschieht in einer Wiederholung von Versuch und Scheitern. Schließlich meistert sie das Hindernis, verharrt einen momentlang in Gedanken und startet den Weg in umgekehrte Richtung. Der innere Kampf beschäftigt sie und das Publikum gefühlt unendlich lang dauernde Minuten. Es ist geschafft. Irgendwann.
Es wird eine Veranstaltung in der Einrichtung geben. Das Personal kommt und arrangiert das Konzert. Andere Bewohner*innen gesellen sich dazu und wir spüren ihre einzelnen Eigenheiten und Probleme im sozialen Umgang. Viele Bewegungen werden dann zwischen Tänzer*innen und Schauspieler*innen ausgetauscht. Wie stellen sich die eigensinnigen Sitzwünsche der Demenzkranken dar? Welche Freundschaften entstehen in den Momenten von Klarheit oder Verwirrung? Der Alltag geht weiter, einfache Dinge und Veränderungen im Ablauf verwandeln sich in der Heimsituation zu großen Hürden oder langwierigen Bewegungsabläufen. Das Komplizierte springt den Zuschauer*innen sofort ins Auge. Die Erinnerung verschwindet, es muss immer neu erklärt werden. Warum sind wir hier? Irgendwann kommt Besuch und reißt einzelne Bewohner*innen wieder aus ihrem Alltag oder besser aus ihrer temporären Beschäftigung. So gab es gerade eine Beschäftigung, die dann durch den hektischen Familienbesuch ge- und verstört wird. Das geschieht seriell. Der innere Kampf der Besucher*innen, ebenso wie der innere Kampf der Bewohner*innen wird gezeigt. Dazwischen immer das Personal, mal in Ohnmacht und Zeitdruck oder in Sorge und Zuneigung.
Pflegeperspektive
Wir haben das Stück aus der Perspektive einer im Pflegebereich tätigen Person gesehen. Hält die Darstellung der Erfahrung stand? Welche Gefühle löst Amour in Personen aus, die insofern betroffen sind? Demenzkranke und ihre Situation werden hier ganz hervorragend dargestellt. Die Tanzsequenzen haben das Spektrum von demenzkranken Personen sehr gut wieder gegeben. Die Merkmale des Krankheitsbildes finden sich klar wieder. Auch die Besuche der Angehörigen geben ein typisches Bild ab. Der “Besuch” bricht temporär in die individuelle Welt der demenzkranken Person ein. Fast wie ein Orkan kommt eine Reizüberflutung zu Stande und die Erkrankten können kaum mit der Situation umgehen. Die Angehörigen versuchen Heiterkeit zu verbreiten und ihre eigene Hilflosigkeit zu überdecken. Eine Qual für alle und doch steht dahinter das große Thema Liebe. Die Zuneigung bleibt bestehen. Die Vergangenheitsmomente sind ein Anker der Liebe, die Verbindung, die eben nicht nur durch einen familiären Kontext vorhanden bleibt. Gleichzeitig blitzt die zeitliche Überforderung der getakteten Pflegekraft in vielen Momenten auf. Als Pfleger*in muss sie*er mit immer mehr Situationen umgehen und kommt immer mehr an ihre*seine Grenzen. Dieser Alltag existiert so in der Welt.
Auch ohne vorherige Berührungspunkte zum Tanztheater ist Amour ein sehenswertes Stück, das viele Denkanstöße zum Umgang mit pflegebedürftigen Familienmitgliedern gibt. Die Überspitzung ist notwendig und gut für das Thema. Eine Komik entsteht durch diese Darstellung nicht. Es ist ein Stück, dass generationenübergreifend besucht werden kann. Die Verbindung von Tanz und Schauspiel ist sehr gelungen und auch für Zuschauer*innen ohne Tanztheatererfahrung gut erfahrbar. Amour ist beides: anrührend und ein wenig verstörend. Ein sehenswertes Stück.
Besetzung
Mirjam Rast, Nadine Geyersbach, Verena Reichhardt, Marie-Laure Fiaux, Fania Sorel, Maartje Teussink, Gabrio Gabrielli, Andy Zondag, Guido Gallmann
Regie Alize Zandwijk
Choreografische Mitarbeit Samir Akika
Bühnenbild Thomas Rupert, Nanako Oizumi
Kostüme Anne Sophie Domenz
Musik Maartje Teussink
Licht Christopher Moos
Dramaturgie Viktorie Knotková
Dramaturgische Beratung Hildegard de Vuyst
Die nächsten Vorstellungstermine:
Renate Strümpel
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