„The Jew is essentially female.“ („Der Jude ist im Wesentlichen weiblich.“) Dieses Zitat stammt aus dem US-amerikanischen Film „The Believer“ (2001). Dieser erzählt die Geschichte des Antisemiten Danny Balint. Balint setzt mit dieser Aussage in frauenfeindlicher Manier Weiblichkeit mit Schwäche gleich und überträgt weibliche Attribute im gleichen Zug auf jüdische Menschen. Er nutzt somit misogyne Motive, um seinen Antisemitismus zu untermauern.
Dass die Verknüpfungen menschenfeindlicher Ideologien nicht nur in Filmen erschreckende Folgen haben, zeigt sich bei der Betrachtung der rechtsterroristischen Attentate von Christchurch, Oslo, Utøya, El Paso und vieler weiterer. Die ideologischen Hintergründe, die die Täter befeuern, eint ein krudes Zusammenspiel aus Misogynie, Rassismus und Antisemitismus. Auch bei dem Anschlag auf die Synagoge von Halle zeigte sich das von Frauenfeindlichkeit durchzogene Gesicht des Antisemitismus, das ebenso Hand in Hand mit rechtsextremer Ideologie und Rassismus geht. Doch wie bedingen sich diese Denkmuster gegenseitig? Ein Blick auf den Zusammenhang von Antisemitismus und Misogynie offenbart jahrhundertalte Verstrickungen und Stereotype, die sich gegenseitig beeinflussen und reproduzieren.
Frauen & Juden und Jüdinnen als gemeinsames Feindbild
Die Verknüpfung von antisemitischen mit misogynen bzw. antifeministischen Denkweisen und Stereotypen ist kein neues Phänomen. Als Reaktion auf emanzipatorische Bewegungen wurden bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert Frauen sowie jüdische Menschen als Feinde des deutschen Volkes diffamiert. Reaktionäre treibende Kräfte warfen Frauen und jüdischen Menschen vor, die Integrität der deutschen Nation zu gefährden und den Niedergang des deutschen Volkes herbeizuführen. Die Konstruktion eines Ideals ‚wahrer männlicher Stärke‘ diente der Schaffung einer vermeintlich einheitlichen ‚deutschen‘ Identität, die um jeden Preis erhalten werden musste. Dieser nationalistische „Männlichkeitskult“ verstand sich als Gegenbewegung zum Feminismus sowie zur Emanzipation von Juden und Jüdinnen. Die vorherrschende Rhetorik bediente sich dementsprechend sowohl antifeministischer als auch antisemitischer Motive bis hin zu einer Verschmelzung beider Diskurse. So wurde der Ausschluss von Frauen und die Abwertung der feministischen Bewegung mit antisemitischen Parolen unterfüttert. Juden hingegen wurden weibliche Attribute, wie auch im eingangs erwähnten Film, zugeschrieben mit dem Ziel, jüdische Menschen abzuwerten. Jüdinnen hingegen wurden spiegelbildlich häufig als „vermännlichte Frau“ dargestellt.
Der „verweiblichte“ Jude in der Antike
Der US-amerikanische Religionsphilosoph Daniel Boyarin wagt noch einen Schritt weiter in die Vergangenheit und analysiert die Darstellung jüdischer Männer im Talmud. Der Talmud ist eine Sammlung mündlich überlieferter Gesetze und stellt einen zentralen Bestandteil der jüdischen Religion dar. Der Talmud stammt aus dem 4.-6. Jahrhundert nach Christus. Somit verweist Boyarin auf die Antike, also eine Zeit lange vor modernen jüdischen Emanzipationsbestrebungen. Er argumentiert, dass bereits in talmudischen Texten eine Konstruktion des jüdischen Mannes als Frau stattfindet. Boyarin erklärt sich diese selbst gewählte ‚weibliche‘ Darstellung jüdischer Männer vonseiten jüdischer Gelehrter als eine Widersetzung gegen vorherrschende Männlichkeitsvorstellungen. Jüdische Menschen suchten mithilfe der Selbstdarstellung als „verweiblichte“ Männer einen Weg, sich der römischen Dominanz und männlichen Vorherrschaft zu widersetzen und sich selbst zu ermächtigen. Eine potenzielle Benachteiligung der Juden wurde in eine Stärke verwandelt, um ihre Ehre und Würde wiederherzustellen.
Das jüdische Volk als Metapher für das Weibliche
Die französische Rabbinerin Delphine Horvilleur geht in ihrem Buch „Überlegungen zur Frage des Antisemitismus“ (2020) auch der Geschlechterfrage im Judentum nach. Ihr zufolge seien sogar bereits im Alten Testament die Zuschreibung von weiblichen Attributen auf das jüdische Volk erkennbar. Sie versteht das Verhältnis zwischen dem jüdischen Volk und Gott als eine Liebesbeziehung: „Das Volk wird abwechselnd als treu, rebellisch, unterwürfig oder ehebrecherisch beschrieben und in seinem Verhältnis zu einem männlichen Gott stets als weiblich.“ Es trage stets „die Züge einer Frau, die in eine Beziehung zu einem männlichen Transzendenten tritt.“ Auch die männlichen Identifikationsfiguren der Thora entsprächen oft nicht den klassischen Männlichkeits-Idealen: So wird Abraham als unfruchtbar, Isaak als blind und manipulierbar, Jakob als ängstlich dargestellt. Die Figuren symbolisieren jedoch laut Horvilleur gerade deswegen die Fähigkeit, ihre Einschränkungen zu überwinden und Widerstandsfähigkeit zu beweisen. Darin sieht sie die Stärke und Widerstandsfähigkeit des Judentums: „die Schaffung einer Tugend aus der eigenen Schwachstelle“.
Was bedeutet das alles für antisemitische und frauenfeindliche Strukturen heute?
Mithilfe Boyarins und Horvilleurs Ausführungen werden die teils sehr subtilen Wirkweisen des Antisemitismus besser identifizierbar. Das antisemitische Stereotyp, Juden seien „unmännlich“ und schwach, kann somit als solches dekonstruiert werden. Es ist in seinem Kern nicht mehr als der Bezug auf jahrtausendealte jüdische Texte, die, so Boyarins und Horvilleurs These, von jüdischen Menschen selbst gewählt worden seien, um ihre in einer patriarchalen Welt als Schwachstelle wahrgenommenen Identitätsmerkmale als solche anzuerkennen und herauszustellen.
Aus der heutigen Perspektive wäre jedoch wichtig – was meines Erachtens bei den Texten von Boyarin und Horvilleur fehlt – den kritischen Blick auch auf stereotype Rollenzuschreibungen zu lenken. Was bedeutet die Zuschreibung „weiblich“? Welche Annahmen über Frauen und „Weiblichkeit“ stecken dahinter, wenn Juden oder das jüdische Volk als „weiblich“ bezeichnet werden? Meist sind hierbei Eigenschaften wie Schwäche, Vulnerabilität und Emotionalität gemeint. Ich finde, dass eine kritische Analyse der antisemitischen Mechanismen des Stereotyps eines „verweiblichten Juden“ auch das kritische Hinterfragen von Geschlechterbinaritäten sowie stereotype Rollenzuschreibungen erfordert. Denn eine kritische Dekonstruktion antisemitischer Stereotype sollte nicht mit dem Reproduzieren anderer Stereotype, wie den sexistischen Gleichstellungen von Weiblichkeit mit Schwäche, einhergehen.
Die Reise in die Vergangenheit zeigt, dass Antisemitismus und Misogynie historische Verstrickungen aufweisen, die sich bis ins 20. und 21. Jahrhundert durchziehen. Die Beschaffenheit dieser Verstrickungen verlangt, dass auch bei der Analyse und Dekonstruktion beide Ideologien – Antisemitismus sowie Misogynie – gekoppelt betrachtet werden. Die Dekonstruktion des Antisemitismus verlangt die Dekonstruktion der Misogynie und umgekehrt, denn beide sind wechselseitig voneinander abhängig.
Naomi Zander
Schreibe einen Kommentar