Zugegebenermaßen ist es etwas spät, um über die aktuell laufende Ausstellung der Weserburg „Mir ist das Leben lieber“ zu schreiben. Trotzdem tue ich es, weil sie immerhin noch bis in den Februar nächsten Jahres läuft und ich sie euch wärmstens an Herz legen möchte.
Die Weserburg und das Museum für moderne Kunst ist nun 25 Jahre alt geworden. Anlässlich ihres Jubiläums zeigt das erste Sammlermuseum Europas eine besonders umfangreiche und vielseitige Ausstellung. Über 100 Exponate, bestehend aus Bildern, Skulpturen und Videoarbeiten, setzen sich auf völlig unterschiedliche Weise mit den essentiellen Themen des Lebens auseinander.
Kunst von Sammlerin Reydan Weiss
Sie alle gehören der Kunstliebhaberin Reydan Weiss. Die Sammlerin stammt laut eigenen Angaben aus einer kosmopolitischen Familie. Sie wurde in Istanbul geboren, ist in Jordanien aufgewachsen, in Jerusalem zur Schule gegangen und kam in jungen Jahren nach Deutschland, weil der Sechstagekrieg von 1967 zwischen Israel auf der einen Seite und Ägypten, Jordanien und Syrien auf der anderen, die ganze Region erschüttert hatte. Und hier entdeckte Reydan Weiss auch ihre Liebe für Kunst. Ihr erster Museumsbesuch fand im Haus der Kunst in München statt, wo Werke von Carl Spitzweg der zukünftigen Informatikerin die Augen für Kunst öffneten. Mit dem Sammeln von Kunst begann sie aber erst in den 1980er-Jahren, durch die persönlichen Begegnungen und Auseinandersetzung mit Künstler*innen.
„Diese feinsinnigen Menschen haben in mir etwas angestoßen, was ich auf keinen Fall mehr verlieren wollte. Ich lernte, dass die Betrachtung der Welt, die Formen des Lebens vielfältiger sind, als ich es mir bis dahin vorstellen hatte können.“
Und vielfältig ist auch ihre Sammlung, wobei allen Werken eine Intensität gemein ist, die auf die Auseinandersetzung der Sammlerin mit dem Leben und dem Dasein an sich schließen lässt.
Die Ausstellung in der Weserburg
Die Werke wurden zu Themenräumen angeordnet: Erstaunen und Erschrecken, Lebensräume, verstörende Aufführungen, weibliche Inszenierung, Farbwelten und Verwandlung. Den Titel hat die Ausstellung einem Foto der Berliner Paris Bar zu verdanken. Anett Stuths Foto „Mir ist das Leben lieber“ zeigt in frontaler Ansicht den Tresen und die Vitrinen der Bar. Allerdings wirkt das Bild in seiner geometrischen Exaktheit tot und befremdlich.
Ich gehe vorbei an düsteren, wunderschönen Stillleben, die aber tatsächlich die letzte Mahlzeit von zu Tode Verurteilten darstellten. Ich sehe mir kleine Hasenfiguren an, die aus Mäuseknochen gebastelt sind und eher an furchtbare Geisterwesen erinnerten, allerdings Seelenabbilder der Künstlerin selbst bedeuteten.
Nicht zu übersehen, zwei riesige Schwarzweiß-Fotos mit uralten japanischen Frauen drauf, nackt und in Lebensgröße. Ich bin überwältigt. Diese zart und fragil wirkenden Gestalten stehen am Ende ihres Lebens in all ihrer Verletzlichkeit da, ihre Augen scheinen mir aber wach, ihr Blick neugierig oder sogar fordernd. Ihr Körper ist vom Alter gebeugt.
Selbst- und Fremdwahrnehmung
Nach einem Moment des Staunens gehe ich weiter in den Themenraum „weibliche Inszenierungen“. Mich fasziniert ein Foto von der mexikanischen Künstlerin Daniela Rossel aus der Reihe „Ricas y Famosa“. Die Reihe dreht sich um reiche Frauen, die sich meistens in ihrem Heim fotografieren lassen. Dabei werden sie selbst zu einem Gegenstand, einem Ausstellungsstück von vielen. Sie passen sich wie ein Accessoire in ihre Umgebung ein. Ich würde der Reihe den Titel geben: „In welcher Welt lebst Du?“ Denn es geht um Milieuzugehörigkeit und Lebenswelten. Das Foto, das ich meine, zeigt eine offensichtlich gelangweilte Frau mit Prinzessinnen-Krone, die lasziv auf ihrem Puppensofa fläzt. Ich empfinde das Foto als durchaus selbstkritische und ironische Selbstinszenierung. Vielleicht ist diese Pose aber doch nur narzisstisch motiviert und unbeabsichtigt lächerlich.
Als nächstes fällt mein Blick auf ein mächtiges und beängstigendes Bild: „Study for Ghost #4“ bildet eine mit einer Burka bekleidete Figur ab. Dieses Wesen scheint aus einer Gespensterwelt zu kommen. Es wirkt unberührbar und unnahbar. Das scheint vom Künstler, Micea Suciu, beabsichtigt, denn die Zeichnung zielt auf die selbstreflexive Wahrnehmung des Betrachters ab. Sie hält uns den Spiegel vor und wir müssen uns zwangsläufig fragen: Wie nehmen wir Burka-Trägerinnen wahr?
Eine ähnliche Wirkung hat die schräg vor dem Bild stehende Frauenskulptur aus Bronze. Das Besondere ist ihre Nacktheit beim gleichzeitigen Tragen eines Kopftuchs. Ist das wirklich ein Widerspruch oder empfinden wir es nur so? Olaf Metzels Skulptur „Turkish Delight“ stellt uns, die Betrachter*innen, bloß. Wir müssen uns mit unseren eigenen Werten, Normen und Vorurteilen auseinandersetzen.
Mein Fazit: Angucken!
Ich bin in die Ausstellung gegangen, weil mich das Bild auf den Werbeplakaten angesprochen hat. Irgendwas stimmt da nicht. Die Frauenfigur scheint eine Mischung aus einer Diva, Rapunzel und Scarlett O’Hara zu sein, allerdings mit dem Gesicht von Birgit, der tratschenden Nachbarin. Die amerikanische Fotografin Cindy Sherman fragt mit ihren manipulierten Selbstportraits ebenfalls nach Identität und Rollenerwartungen. Indem sie sich in verstörende Figuren verwandelt, die unterschiedliche Mixturen aus überformten historischen Rollenklischees und eigenen Fantasiegelbiden darstellen, erschüttert sie zumindest mein normiertes Schönheitsempfinden.
Ich kann die Ausstellung nur empfehlen. Für mich war sie ein Erlebnisspaziergang durch elementare Lebensthemen. Es gab viel Wunderschönes, Schreckliches, Spannendes und Neues zu besichtigen. Reydan Weiss hat nicht nur Zugang zu vielen Kulturen, ihre Sammlung setzt sich auch aus Werken von Künstlern aus unterschiedlichen Kulturen zusammen. Beachtenswert ist die hohe Zahl an Künstlerinnen, die in der Ausstellung vertreten sind. Das ist vor allem in der modernen Kunst, in der es Frauen bekanntlich ungleich schwerer haben, sich als Künstlerinnen zu etablieren, besonders.
Die Ausstellung ist in der Weserburg bis zum 26. Februar 2017 zu bewundern.
Hannah Lüdeker
Ronja meint
Ein so wunderbarer Bericht über diese faszinierende Ausstellung! Vielen Dank. Und auch der Kommentar zeugt von Kenntnisreichtum!
Mary meint
Reydan Weiss ist eine unkonventionelle, unprätentiöse Sammlerin – einfach sympathisch und überzeugend in ihrer Vielfalt von Werken bekannterer und unbekannterer KünstlerInnen. Sie überzeugt auch mit dem Focus auf die Geschlechterthematik – insbesondere der Diskriminierung von Frauen.