1860 in Nieblum auf Föhr geboren, wandert Louisa Christina Hansen-Rollfing mehr als 100 Jahre vor Renate Hannemann über Bremerhaven in die USA aus. Die damals 20 jährige Louisa Hansen steht damit ganz in der Tradition der deutschen Übersee-Auswanderung. Über ihre Emigration und ihr Leben in den USA, ihre Gefühle und Gedanken hat Louisa Hansen-Rollfing in „Lebenserinnerungen einer Auswanderin“ geschrieben.
Louisa Hansen ist die Tochter eines Schneiders auf Föhr. Ihren Schilderungen entnehmen wir, dass ihr Leben dort ganz in Ordnung ist. Sie ist keinen größeren Zwängen unterworfen, leidet keinen Hunger, wird nicht verfolgt. Es gibt also keine sichtbaren, äußeren Gründe, warum sie auswandern müsste. Trotzdem entscheidet sie sich, als gerade mal Zwanzigjährige, für ein Leben in den USA. Warum?
Die Frage ist im Nachhinein schwer zu beantworten. Vermutlich tat sie es – einfach – weil sie es konnte. Insgesamt wanderten von 1820 bis 1928 5,9 Millionen Deutsche aus,davon 5,3 Millionen in die USA. Allein in den 1870er Jahren waren es 500.000 Personen. In dieser Zeit wanderten vor allem Einzelpersonen aus – nicht wie vorher oftmals ganze Dorfgemeinschaften – eben auch viele Frauen. Ihr Onkel und einige Cousinen wohnten bereits in Louisiana und betrieben dort eine Schneiderei. Außerdem waren auch von Föhr bereits Bekannte ausgewandert. So wuchs sie mit den Schilderungen und Briefen der Ausgewanderten auf. Sie konnte früh von einem Leben in Amerika träumen und die Möglichkeit tatsächlich auch umsetzen. Ihre Cousine, die ihr Arbeit in der Familienschneiderei anbot, streckte die Kosten für die Überfahrt vor.
Die Überfahrt
Über Stationen in Husum, Hamburg und Bremen besteigt Louisa Hansen am 18. Oktober 1880 das Dampfschiff „Nürnberg“ in Bremerhaven. Die Überfahrt, inklusive Übernachtungen und Zugfahrt in Amerika, wird vom „Norddeutschen Lloyd“ organisiert. Die Reederei aus Bremen war damals das bedeutendste deutsche Schifffahrtsunternehmen. Nach Louisa Hansens Angaben sind mit ihr ca. 960 Menschen aus ganz Europa an Bord. Wie die Mehrheit der Auswanderer, fährt auch sie auf dem Zwischendeck mit. Nicht sehr komfortabel wie sie schreibt:
„Quergelegte Bretter ergaben eine Art Pritsche. Darauf lagen dünne Matratzen aus Stroh – sonst nichts. Das sollten unsere „Betten“ sein! Reihe an Reihe standen sie, mit schmalen Gängen dazwischen. Man sollte eine Wolldecke mitbringen. Ich wußte nichts davon, hatte also keine. Unter jedem Bett entdeckte ich einen Kübel, und an der Treppe sah ich ein großes Faß, über dessen Zweck ich mir nicht im Klaren war.“
Die Kübel waren Kotz-Eimer, falls man seekrank wurde und wurden in das große Fass entleert. (Im Auswandererhaus Bremerhaven kann man Nachbildungen der Räumlichkeiten ansehen und sich eine vage Vorstellung von den Gegebenheiten auf dem Schiff machen). Louisa Hansens Reaktion ist nur allzu nachvollziehbar: „Ich dachte, ich würde diese Fahrt nicht überleben, so entsetzt war ich, und ich weinte bittere Tränen.“ Anderen alleinreisenden Frauen geht es ähnlich. Sie tun sich zusammen und gemeinsam können sie erwirken, dass sie einen eigenen Raum beziehen dürfen. Durch Kontakte zu gleichaltrigen Auswanderern sowie Bordpersonal bekommen sie zusätzliche Annehmlichkeiten. Bücher, Obst, Süßigkeiten oder ein Landaufenthalt im Hafen von Le Havre sind gute Abwechslungen zu der ansonsten langweiligen Fahrt. Die Fahrt muss aber nicht nur langweilig, sondern trotz Frauen-Schlafsaal auch alles andere als komfortabel gewesen sein.
Nach 27 Tagen Fahrt kommen sie in Amerika an. Aber mit der Überfahrt ist die Reise noch nicht vorbei. Gemeinsam mit einigen nun Bekannten vom Schiff reist Louisa Hansen von New Orleans aus drei Tage und Nächte mit dem Zug nach Lake Charles, Louisiana. Dort leben ihr Onkel und ihrer Cousinen. Die Zugfahrt ist beschwerlich und es gibt keine Verpflegung. Die alleinreisenden Frauen haben es nicht leicht und sind darauf angewiesen, dass sich die Männer ihrer annehmen:
„Hier gab es zum ersten Mal die Gelegenheit, etwas Warmes zu essen zu bekommen. Aber draußen regnete es in Strömen. Nur die Männer wagten es, den Waggon zu verlassen. Aber wir Mädchen wurden nicht vergessen. Unsere Begleiter brachten uns heißen Kaffee, Eier und warme Brötchen, und es schmeckte sehr gut.“
Ankunft und erste Enttäuschungen
Immer wieder macht sie Zwischenstation und kommt bei entfernten Bekannten oder Verwandten unter, die vor längerer Zeit ausgewandert waren. Oftmals kennt sie diese vorher nicht. Sie kann sich also auf ein deutsches Netzwerk verlassen, sozusagen das Couchsurfing des 19. Jahrhunderts. Auch die Hotels in denen sie übernachtet, sind meist in Hand von deutschen Auswanderern.
Als sie schließlich in Lake Charles ankommt, sind ihre Gefühle gemischt:
„Es war der 1. Dezember 1880. Verlassen hatte ich Deutschland am 18. Oktober. So hatte meine Reise 42 Tage gedauert. Aber was machte das schon! Ich hatte das Abenteuer einer Reise über den Ozean ganz allein geschafft und war, ohne Schaden erlitten zu haben, am Ziel meiner Wünsche angekommen, ich war in Amerika.“
Direkt danach wird ihre Stimmung gedämpft, aber, wie sie selbst feststellt, es sei eben nicht wie zuhause, „die Stadt war noch jung, ich mußte mich umstellen.“ Auch das Haus der Cousine entspricht nicht ihren Erwartungen „Ich war ziemlich enttäuscht, ich hatte mir alles anders vorgestellt.“
„als ob es meine Bestimmung wäre, immer alleine zu reisen.“
Mit der Zeit lebt Louisa Hansen sich ein und heiratet mit August Rollfing einen anderen auswanderten Deutschen. Die beiden bekommen zwei Kinder und führen ein gutes Leben. Sie können es sich sogar leisten, das Louisa mit den Kindern 1893 noch einmal den Atlantik überqueren und ihre Familie in Norddeutschland besuchen kann. 13 Jahre nachdem sie ausgewandert ist, besteigt sie also wieder allein ein Schiff. Sie resümiert:
„als ob es meine Bestimmung wäre, immer alleine zu reisen. Aber es hat auch einen Vorteil: Man gewinnt Vertrauen zu sich selbst, und die Erfahrung zeigt, wohin man auch geht, es gibt überall Menschen, die sich auskennen und die einem weiterhelfen, weil das ihr Beruf ist.“
Die Fahrt gefällt ihr ansonsten sehr gut, sie trifft nette Leute und auch der Aufenthalt in der dritten Klasse ist „zufriedenstellend“. Dass diese Selbständigkeit von alleinreisenden Frauen nicht immer auf Zuspruch trifft, zeigt folgende Aussage:
„Irgendwann kam ich mit unserem Steward ins Gespräch und hörte Ansichten, die mich in Empörung versetzten. Er meinte, alle Damen, die allein auf solche Reise gingen, taugten nicht viel, und wenn ihre Männer wüßten, wie sie sich an Bord eines Schiffes benähmen, würden diese sie nicht zurückhaben wollen. Ich streite mich ungern; aber ich sagte ihm ganz entschieden, daß er unrecht habe.“
Ob Louisa Hansen-Rollfing sich nicht groß um Geschlechterrollen gekümmert hat oder sie nicht immer wahrgenommen hat, kann im Nachhinein nicht ausgemacht werden. Für sie als Frau scheint es jedenfalls kein Problem zu sein, sich allein auf Reisen zu begeben und einem Beruf in einem anderen Land nachzugehen. Globale Mobilität und Selbständigkeit von Frauen waren also möglich!
„So manches Mädchen, das ich gekannt hatte, war nach Amerika gegangen oder anderswohin; sie waren verstreut über die ganze Welt.“
Zurück in Deutschland besucht Louisa Hansen-Rollfing ihre Familie und die ihres Mannes. Sie isst sein Lieblingsgericht „Bick-Beer-Pfannkuchen“ und besucht die Orte seiner Kindheit. So lernt sie ihren Ehemann noch einmal anders kennen. Es werden Feste für die Ankömmlinge aus Amerika gefeiert und auf Föhr trifft sie andere Auswanderer, die nun mit ihr in Lake Charles und Umgebung wohnen. Sie genießt die Monate mit ihrer Familie. In ihrer Beschreibung klingt alles ganz locker. Sie schreibt sich mit ihrem Mann Briefe, sie unternimmt Ausflüge mit ihrer Familie, spricht mit der Mutter offen über die anstehende, erneute Trennung, geht mit Freunden auf einem Ball tanzen. Fast aus jeder Familie, in jedem Freundeskreis ist jemand ausgewandert.
Trotzdem freut sie sich auf die Rückfahrt in die andere „Heimat“ und auf ihre neue Familie in Amerika. Sie graut sich vor den Winterstürmen auf Föhr und kann sich, so sehr sie ihre Familie vermisst, ein Leben dort nicht mehr vorstellen. Die Rückfahrt ist beschwerlich und Louisa Hansen-Rollfing wird krank. Das Schiff „Elbe“, auf dem sie zurück fährt, geht einige Jahre später bei der Fahrt von Hamburg nach New York unter. Sie erzählt noch, dass sie womöglich viele der Reisenden gekannt habe. Auf verschiedene Arten waren es also Abschiede für immer.
Rieke Bubert
Schreibe einen Kommentar