“Gib Gas Kleines, so kommen wir hier nie weg!” Rose langte über Jos Schulter, drückte den Gashebel durch. Die Granger schoss in die Weite des Weltraums, befreit vom Gravitationsfeld des Planeten Elvis.
“Verdammt, Rose, du bist Co-Pilotin, Finger weg.” Wütend schubste Jo die Hand ihrer Tante zur Seite, schloss die Finger um den Hebel und brachte das Raumschiff wieder unter Kontrolle.
Dann zog sie Luft durch die Nase ein, bis ihr Brustkorb sich dehnte und ließ sie langsam durch den Mund entweichen. “Aufregen, abregen, weiter fliegen”, hatte Jo in ihrer Ausbildung gelernt. “Im Ernst Rose”, schimpfte sie, “die Abmachung war: Ich leite die Manöver!”
“Jaja”, Rose rieb sich die Stirn, “vergessen.” Jo erahnte eine Entschuldigung, beließ es dabei und erhob sich: “AIry, Kurs zur Erde neu berechnen, Autopilot aktivieren, danke.” “AIry ist ein Scheißname für einen Boardcomputer!”, murmelte Rose. “Lass ihn das lieber nicht hören, sonst …” Jo ließ den Satz schweben.
Die Schwerkraft hatte sich noch nicht normalisiert. Jo kannte das Gefühl, als würden sich zwei Finger unter ihr Brustbein legen und sanft nach oben ziehen. Sie öffnete eine Schranktür, dahinter stand eine kleine Auswahl an Lebensmitteln, sorgsam fixiert.
Sie zog eine Packung Sandwichtoast und ein Glas Schokocreme hervor. “Schokotoast zum Abendbrot”, nickte Tante Rose anerkennend, “das gabs früher nur bei unseren Großeltern.” Die Gravitation normalisierte sich und der Zug unter Jos Brustbein ließ nach.
Sie schmierte ein Schokosandwich und stellte es vor ihre Tante: Ein Versöhnungsangebot.
“Ungetoastet?” Rose schnalzte mit der Zunge. “Wir müssen Treibstoff sparen” entschuldigte sich Jo, bückte sich und hob den Bord-Kaktus auf, der bei Roses Vollgas-Manöver herunter gefallen war.
Was für eine unnötige Aktion. Egal, Jo hatte die Fracht pünktlich abgeladen und lieferte ihrem Chef keinen Grund zur Beschwerde. Entspannen.
Mit den Daumen massierte Jo ihren Kiefer und ließ ihre Augen wandern, sie blieben an ihrer Spiegelung im Fenster hängen. Das krause Haar verzieh ihr zwei Tage ohne Waschen. Jo verbrachte ihre Zeit lieber im Bett als im Bad.
Zeit war knapp an Bord und Wellness behagte ihr sowieso nicht.
Jo überlegte: “Wenn wir auf warmes Wasser und etwas Komfort verzichten, sollten wir den Verbrauch auf dem Rückweg ausgleichen können.” Es war Vorschrift, ausreichend Treibstoffreserven an Bord zu haben, aber ihr Boss zog ihr jeden Liter Zusatzverbrauch vom Gehalt ab. Jo seufzte, nahm einen Joghurtdrink aus dem Schrank und trank einen Schluck: Er schmeckte gesund.
“Kindchen, du machst dir zu viele Sorgen um deinen Job”, tröstete Tante Rose, “der ist eh mies bezahlt.”
Jo nickte, die Arbeitsbedingungen als Frachterpilotin verschlechterten sich, ihr Co-Pilot hatte letzte Woche gekündigt. Wäre Tante Rose nicht eingesprungen, hätte Jo ziemlich in der Patsche gesessen.
“Ist nicht mein Traumjob, aber wenigstens komme ich rum” verteidigte sich Jo. “Und du hast mich doch davon träumen lassen, das Weltall zu erkunden.”
Tante Rose war eine der ersten extrasolaren Pilotinnen gewesen. Ihre Geschichten hatten Jo als Mädchen über Stunden an den Küchenstuhl gebannt. Damals im 22. Jahrhundert boomte die kommerziellen Raumfahrt, Treibstoff wurde immer günstiger und der Bewegungsradius des durchschnittlichen Erdenbewohners vervielfachte sich. Ein Raumfahrt-Hype entstand und Tante Rose wurde für einen Dokumentarfilm interviewt.
Seitdem war viel Leben passiert. Das öffentliche Interesse verebbte und Reisen im interstellaren Raum wurden Alltag. Pandemien, Finanz- und Naturkatastrophen, Kriege beschäftigten die Menschen. In Raumfahrt wurde nur noch investiert, wenn es sich auszahlte. Tante Rose erkrankte, wurde erst arbeitslos, dann ‘Person in langfristiger Selbstfürsorge’. Ihr Sternweh blieb.
Jo schreckte aus ihren Gedanken, der Joghurtdrink schwappte gegen den Rand des Bechers. Sie zögerte, dann warf sie ihn in die Müllpresse. Stattdessen schmierte sie sich auch ein Schokosandwich und ließ sich neben ihre Tante sinken.
Rose beobachtete sie: “Was ist los? Schoko gönnst du dir doch sonst nie?”
Jo antwortete nicht. “Geht dich nichts an”, kämpfte mit: “Nimm mich in den Arm.” Ihre Augen begannen zu brennen. “Weinen am Arbeitsplatz, wie unprofessionell”, Jo starrte auf ihr Sandwich.
“Wahrscheinlich bekomme ich meine Tage, die sind so unregelmäßigen, da weiß man nie…”, sie brach ab. “Das hast du von mir”, tröstete Rose sie. ‘Dein Zyklus folgt deiner Zeit, das lässt sich nicht einfach in Tagen messen. Übrigens: Um keinen Tropfen zu verschwenden, trage ich meine Menstruation-Blume einfach immer. Fühlt sich auch ganz angenehm an, wenn die sich da unten so räkelt!” Rose deutete auf ihren Schoß, Jo musste grinsen: “Außerdem bin ich einfach nur gefühlig, weil du da bist.”
Sie biss in ihr Sandwich. Schokocreme quoll zwischen den Scheiben hervor, füllte ihren Mund mit der Süße von Mädchentagen. Gerne hätte sie etwas gesagt, über Verbundenheit, Frauen, Familie – doch ihr Kopf blieb so leer wie das All vor ihnen. Sie schwiegen, schmeckten, kauten, schluckten, bis Jo die Stille brach:
“Ich muss mir wohl eine neue Co-Pilotin suchen.” “Oder einen neuen Job”, entgegnete Rose, “einen, der dir Freude bringt.”
“Und wer sagt mir, was das wäre?”, stöhnte Jo. “Na dieser ist es jedenfalls nicht”, ihre Tante verschränkte die Hände hinter ihrem Rücken. “Willst du dein Leben aus Angst und Bequemlichkeit vorüberziehen zu lassen?” Jo stand auf: “Fang bloß nicht damit an, dass ich mein Potential verschwende…”
“Pah, dein Potential? Meine Gene!” empörte sich Rose, “schließlich bist du das Einzige, das von mir bleibt, wenn ich mit dem Leben fertig bin!” Jo hatte nie gewagt zu fragen, ob Rose sich je eigene Kinder gewünscht hätte. “Und jede Menge bekloppter Hologramme”, versuchte sie zu scherzen. Es war absurd, dass Menschen trotz allen technischen Fortschritts noch starben.
Roses Stimme blieb ernst. “Früher war ich ganz versessen darauf etwas zu schaffen, das bleibt, mich überdauert. Ich wollte ein Meisterwerk schreiben, malen, filmen, komponieren, einen Planeten entdecken, eine legendäre Karriere, die unsere Geschichte prägt.” Wir Menschen bemühen uns krampfhaft Spuren zu hinterlassen, dachte Jo. Wir senden sogar Sonden ins All, die überdauern sollen, selbst wenn wir uns weiter ausrotten.
“Irgendwann wurde mir klar, dass ich mich lieber auf die Zeit vor meinem Tod konzentriere, mehr lebe”, fuhr Tante Rose fort. “Wär das auch was für dich, Kleines?” Ihre Stimme verriet die Sorge hinter dem Spott. “Eine Dusche, das wäre jetzt was für mich”, entgegnete Jo und verzog sich ins Bad.
Wenig später prasselte ein kalter Strahl auf Jos Rücken. Rubine perlten an den Innenseiten ihrer Oberschenkel, bis das Wasser sie traf und das Blut in einem rosa Fluss die Beine hinunter rann. Rosa, Rose, dachte Jo. Hatte ihre Tante Recht, sollte Jo aufhören sich zufrieden zu geben? Einfach kündigen und dann…? Vor dem Fenster erstreckte sich die Dunkelheit des Alls. So viel Raum, Weite, Leere, Nichts. Jo erschauderte. Sie wölbte eine Hand zur Schale und fing ein paar Tropfen in ihrem Schritt. Mit Rose an Bord fühlte sie sich stärker, das Blut verband sie. Familie, Zyklus, Frau sein. Das war groß. Sie schöpften Kraft aus einer Quelle der Weiblichkeit, schufen einen Saft um die Welt zum Blühen zu bringen. Wovor hatte sie Angst? Sie war nicht allein. Ihr Leben ordnete sich ein, in die Gemeinschaft alles Weiblichen. Jo gab sich hin, vertraute in das Universum vor sich. Sie hob die Arme, ließ Blut und Gedanken fließen. Zu ihren Füßen sprossen rote Knospen, genährt durch die Kraft einer Frau, bereit zu wachsen.
Ronja Gronemeyer
Kathrin meint
Wunderschönes Stimmungsbild wird durch die Sprache gezaubert, fragend, tröstlich und Hoffnung weckend. Die Kombination mit den ausdrucksstarken Aquarellen ist sehr gelungen und verstärkt den berührenden Affekt noch.