Luisa besucht die Oberstufe eines Schweinfurter Gymnasiums. Bereits im ersten Satz fällt der Name der Welt, die der Geschichte ihren Titel verliehen hat: Die Welt heißt eigentlich Dunja und ist eine Mitschülerin von Luisa. Dunja hat blaue Haare, sitzt vor Luisa im Matheunterricht und gewinnt Poetry-Slams. Eine Woche vor den Sommerferien fliegt sie in das Land zurück, aus dem die Familie ihres Vaters stammt, und lässt Raum für Luisas Imagination.
„Vielleicht wurde sie des Landes verwiesen, wegen ihres Vaters, es hat irgendeine Geschichte mit ihm gegeben. Oder sie ist ausgewandert, abgeschoben worden, geflohen.“ (S.16)
Luisa kanalisiert diese Fantasien Wort für Wort in eine Geschichte. In dieser Geschichte trägt Dunja in einem fernen Land einen weißen Leinenanzug und ist mit einem LKW unterwegs. Dieser fungiert als Verkaufsstand für Eier, ist in Wirklichkeit jedoch ein fahrendes Stundenhotel.
Luisa unterliegt dem Sog ihrer eigenen Geschichte
Den Anfang ihrer Geschichte trägt Luisa beim Grillfest der Familie vor. Die Mutter und die Oma sind anwesend, dazu noch Tante, Onkel, Cousin und Nachbarinnen. In dieser Konstellation nimmt jede*r der Anwesenden eine bestimmte Rolle ein. Luisa, die stolz auf ihre Geschichte ist. Die stets alkoholisierte Oma. Die Mutter, die mit den Augenbrauen spricht und dadurch ihre negativen Emotionen zum Ausdruck bringt. Der Onkel, der als „alter weißer Mann“ die Meinung vertritt, man dürfe bestimmte Dinge ja wohl noch sagen. Der Cousin, der nur wenige Jahre älter ist als Luisa und weltoffenere Ansichten als die übrigen Familienmitglieder vertritt. Und die Nachbarinnen, die bloße Zuschauerinnen in dem Drama sind, das auf dem Grillfest seinen Beginn findet.
Luisa schreibt weiter, bringt Worte aufs Papier und entwickelt ein fast zwanghaftes Bedürfnis, die Geschichte weiterzuführen. Als sie zufällig die Mutter von Dunja kennenlernt, bekommt sie die Chance, in Dunjas privateste Sphären einzudringen, und gibt sich Fantasien hin, die sie vorher gut gehütet in ihrem Inneren verborgen hielt. Doch Dunja kehrt aus ihrem Aufenthalt im Ausland zurück und für Luisa kollidieren schon bald Fantasie und Wirklichkeit.
Kritische Betrachtung des Orientalismus
„Die Welt hat blaue Haare“ spielt mit Schweinfurt in einem Setting, das durch Konservatismus geprägt ist. Paula Steiner selbst stammt aus Schweinfurt und hat Sehenswürdigkeiten in die Handlung einfließen lassen, die Ortskundige sofort wiedererkennen dürften.
Eine davon ist das Rückert-Denkmal des Orientalisten Friedrich Rückert. Bei dem nach ihm benannten Rückert-Slam hat Luisa ihren Auftritt mit einem Text über Dunja. „Über“ kann hier wörtlich genommen werden – Luisa trägt ihre ganz eigene Vorstellung von Dunjas Leben vor. Damit verwebt Paula Steiner Vergangenheit und Gegenwart zu einem Handlungsfaden: Da ist der im 18. Jahrhundert geborene Friedrich Rückert, dessen Schaffen im heutigen Kontext durch den postkolonialen Blickwinkel kritisch betrachtet werden könnte. Westliche Anschauungen und Stereotype wurden auf den Orient projiziert und ergaben eine verzerrte, romantisierte Version orientalischer Kultur.
Und dann gibt es Luisa, die Dunja in ihrer Geschichte aus ihrer mutmaßlich verzweifelten Lage retten muss und ein exotisches Land beschreibt, das durch eine anachronistische Sichtweise geprägt ist. Damit reproduziert sie ein Bild, welches einerseits schon vor rund zwei Jahrhunderten von einem damaligen Bewohner Schweinfurts so gezeichnet wurde. Andererseits fließen Vorurteile ein, die Luisa durch ihr Umfeld verinnerlicht hat.
Satirische Gesellschaftskritik ohne erhobenen Zeigefinger
Luisa ist dadurch durchaus eine Figur, die nicht immer Sympathien sammelt. Ihre Recherche zu aktivistischen Themen beruht auf Instagram-Beiträgen, die sie abspeichert und nie wieder anschaut. In Bezug auf Dunja verhält sie sich übergriffig und grenzüberschreitend.
Paula Steiner hat Drehbuch studiert und dies spiegelt sich im Schreibstil des Buches wider: Kurze, klare Sätze bringen den Leser*innen die Handlung näher. Dies heißt jedoch nicht, dass die Beschreibungen die Vorstellungskraft nicht anregen. Bestimmte Szenen mit einem Dackelmischling wurden so gut ausgemalt, dass ich wahren Ekel verspürte.
Im gesamten Text schwingt zudem ein satirischer Unterton mit und selten werden die Verfehlungen der Figuren offen angeprangert. Die Autorin gibt den Leser*innen vielmehr die Möglichkeit, Aussagen oder Gedanken zu analysieren oder gegebenenfalls zu kritisieren, jedoch auch bestimmten Handlungen, insbesondere von Luisa, mit Empathie zu begegnen. Letztendlich ist nicht nur Luisas eigenes Weltbild durch reproduzierte Stereotype geprägt, sie selbst leidet auch unter der queerfeindlichen Einstellung ihrer Familie und begibt sich auf Selbstfindung durch das Niederschreiben einer Geschichte.
Fazit
Die Lektüre von „Die Welt hat blaue Haare“ erlaubt, zwischen den Zeilen zu lesen und lädt mit der Erwähnung von Rassismus, Queerfeindlichkeit und Orientalismus durchaus auch zur Reflektion eigener Verhaltensweisen ein.
Obwohl die Handlung dieser Coming-of-Age- sowie Coming-Out-Geschichte durch die behandelten Themen nicht als leichte Lektüre gezählt werden kann, leitet der lakonische Schreibstil dennoch mühelos durch die Geschichte.
„Die Welt hat blaue Haare“ ist trotzdem ein Buch, das nicht jedem gefallen wird – das möchte es aber auch gar nicht.
Svenja Fiedler
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