Die Autorin Dr. Dipl. Psych. Annette Hosenfeld schreibt in ihrem neuesten Buch: „Lust ist für mich gelebte Selbstliebe, da es stets um eine Befriedigung der eigenen inneren Bedürfnisse geht.“ (Hosenfeld 2022, S. 37)
So weit, so gut. Ein gutes Maß an Selbstliebe schadet niemandem. Und dann noch Selbstliebe in Kombination mit der eigenen Lust? Ich würde es als Win-Win-Situation betiteln – jedenfalls aus der Perspektive einer cis-weiblichen Frau, die sich gerne mit ihrer Lust befasst und damit etwas anzufangen weiß. Was mir das Buch verraten hat, inwiefern ich wirklich durch meine Lust „zu mir“ gefunden habe und welche Dinge ich an dem Buch kritisch betrachte, erfahrt ihr in dieser aktuellen Buchrezension.
Über das Buch
Die Autorin gibt in diesem „psychologisch fundierten Ratgeber“ anhand von anonymisierten Fallbeispielen aus ihrer eigenen Praxis einen Einblick in ihre Arbeit als Einzel-, Paar- und Sexualtherapeutin. Es geht um die Verbindung zwischen Sexualität und Selbstakzeptanz, basierend auf Beispielen aus der aktuellen Forschung und der Psychologie. Das Buch stellt den Leser*innen praktische Übungen zur Verfügung. Das Ziel? Lust auf unsere Lust bekommen und unsere Bedürfnisse verstehen, kommunizieren und ausleben.
Kommunikation ist das A und O
Beziehungen – mit oder ohne Sex – kommen ohne Kommunikation auf Augenhöhe nicht aus. Das macht auch Annette Hosenfeld in ihrem Buch deutlich. Grenzen ziehen und Nein-Sagen ist ebenso wichtig wie Vorlieben benennen und sagen, wenn mir etwas richtig gut gefällt. Den Fokus in diesem Ratgeber auf die Kommunikationsebene zu legen, halte ich für äußerst sinnvoll. Man wundert sich, wie häufig Kommunikation auf Augenhöhe (noch immer) eine Ausnahme darstellt. Die Autorin greift zur Erklärung der psychologischen Grundlagen auf bekannte Wissenschaftler*innen, wie beispielsweise Sigmund Freud, zurück und veranschaulicht Forschungsergebnisse anhand von Grafiken. Warum ausgerechnet Sigmund Freud rezipiert wird, dessen stark veraltete und kritisierte Triebtheorie sexuellen Missbrauch auf Grund des „Sexualtriebs“ rechtfertigt, erschließt sich mir im Kontext des sensiblen Themas „Lust“ nicht.
Praktische Übungen to-go
Zwischendurch streut Annette Hosenfeld praktische Übungen ein, die zuhause nachgemacht werden können, entweder alleine oder auf Beziehungsebene. Die meisten Übungen sollen einen sensibleren Blick auf die eigenen Gefühle oder Vorlieben werfen, wenn es um das Thema der Lust geht.
Vor allem die Übung „Tagebuch der Lust“ (Hosenfeld 2022, S. 118) hat mir gefallen. Für die Personen, die ohnehin schon Tagebuch schreiben, ist diese Übung nicht sonderlich neu. Sie setzt allerdings einen interessanten Fokus auf ein physisches und psychisches Empfinden, welches im Alltag möglicherweise wenig beachtet wird. Die Übung sorgt für einen guten Einblick in das individuelle Lustempfinden, in dem ich täglich aufschreiben kann: Wann denke ich an Sex? Wann sehne ich mich nach körperlicher Nähe? Wann verspüre ich Lust? Wie hoch ist die Intensität? Es geht dabei nicht um „große sexuelle Ereignisse“, sondern um die kleinen, alltäglichen Impulse.
Eine Frage der Zielgruppe?
Die sexuelle Orientierung und die Geschlechtsidentifikation der Zielgruppe dieses Buches benennt die Autorin nicht. Annette Hosenfeld lädt „[…] alle, die es lesen, dazu ein, die eigene Sexualität zu reflektieren, sich neugierig zu erforschen […] und damit die Fähigkeit zur Selbstliebe auszubauen.“ (Hosenfeld 2022, S. 25)
Es wird aber recht schnell deutlich, für welche Personen das Buch geeignet ist und für welche Personen eher nicht. Die praktischen Partner*innen-Übungen können theoretisch von allen sexuellen Orientierungen durchgeführt werden, die Sex mögen und ausleben wollen. Der Schreibstil des restlichen Buches befasst sich allerdings nur mit heteronormativen Beziehungen zwischen zwei CIS Partner*innen. Das willkürliche Gendern hilft bei der Beantwortung dieser Frage nicht. Ob sich das Buch ausschließlich an CIS Frauen richtet, wirkt an manchen Stellen recht beliebig. Die Ansprache an Personen mit Vulven kommt vermehrt vor, zwischendurch werden dann aber doch Personen mit Penis angesprochen.
Lustlosigkeit = Problem in der Paardynamik?
Das Thema mit der Lust ist so eine Sache. Abgesehen davon, dass für einige Paare die sexuelle Lust erst gar keine Rolle in der Beziehung spielt, können auch andere Hintergründe und Vorerfahrungen dafür sorgen, dass die eigene Lust keinen Spaß macht und/oder Traumata getriggert werden. Lust und Sexualität sollten daher mit Fingerspitzengefühl betrachtet werden. Von einem „moralischen Ungleichgewicht“ zu sprechen, wenn „einer der Partner keine Lust auf Sex hat […] und sich […] über die Bedürfnisse des anderen stellt“ (Hosenfeld 2022, S. 23) halte ich für äußerst kritisch. Was haben unterschiedliche individuelle Bedürfnisse mit Moral zu tun?
Das Ding mit den reproduzierten Stereotypen
Es ist sicherlich von Vorteil in einem Ratgeber dieser Art die sozialgeschichtlichen und psychologischen Hintergründe zu beleuchten. Schließlich sollte ein objektiver Referenzrahmen für den Ist-Zustand geschaffen werden. Was in meinen Augen eher das Gegenteil von objektiver Aufklärung darstellt, ist die Reproduktion von alteingesessenen Stereotypen bzw. die Verallgemeinerung geschlechtsspezifischer Verhaltensweisen. Dass Jungs am Anfang ihrer Sexualität „irgendwann Pornos [schauen]“ und Mädchen indes „vor allem romantische Liebeskomödien [konsumieren]“ (Hosenfeld 2022, S. 21) ist im Gesamtzusammenhang zu undifferenziert gedacht.
Annette Hosenfeld spricht in ihrem Buch viel über die eigenen Erfahrungen im Rahmen ihrer Praxisarbeit – zur Veranschaulichung gut, als Maßstab aller Dinge eher nicht so gut. Problematisch wird es meiner Ansicht nach dann, wenn zu den stereotypisierten Aussagen eine subjektive Wertung hinzukommt. „Viel schwieriger, als einen Mann zu finden, der die Kontrolle beim Sex einmal abgibt, ist es allerdings meiner Erfahrung nach, eine Frau zu finden, die wirklich Lust darauf hat, die Führung zu übernehmen […], denn darin sind viele Frauen nicht unbedingt gut.“ (Hosenfeld 2022, S. 70).
Mit dieser subjektiven Bewertung bestärkt die Autorin sowohl männliche*, als auch weibliche* Stereotype. Vor allem ist die „internalisierte Mysogynie“ ein Problem, im allgemeinen Sprachgebrauch als verinnerlichter Frauen*hass bekannt. Unschön wird es vor allem dann, wenn dieser Frauen*hass von Frauen* verübt wird. Frauen* sollten sich in meinen Augen kollektiv hinterfragen, weshalb mysogyne Strukturen ein Problem darstellen, woher sie kommen und wie sie durchbrochen werden können. Gemeinsam für Gleichberechtigung und Toleranz. Frauen* stecken ja immerhin gemeinsam in diesen alten Strukturen fest, warum also gegen das eigene Team spielen?
Problematische Podcast-Tipps
Zu einem guten Buch gehört eine gute Anschlussliteratur, auch Podcasttipps werden im 21. Jahrhundert gerne gesehen. Es sei denn…?
Es wird sich zum einen für eine Webseite ausgesprochen, die „echten Männern“ per kostenlosem Email-Newsletter zeigt, wie sie mit einem „Masterplan in 7 Schritten zum absoluten Frauenüberfluss“ kommen, „spezielle Techniken und Mindsets lernen, um Frauen in den 7. Himmel zu vögeln“ oder wo Männern gezeigt wird „immer souverän einen hochzubekommen“.
Des Weiteren gibt ein Frauencoach Beziehungstipps, die besagen, dass emotionale Kälte von Männern deshalb begründet werden kann, weil die Frau „übertriebenes Liebsein und ständige Abrufbereitschaft“ ausstrahlt oder „sich auf einmal in ihrem gesamten Verhalten von ihrer misstrauischen Sorge, ihrer Verkrampftheit oder gar von ihrer Verlustangst leiten lässt“. Da fiel mir wortwörtlich die Kinnlade runter.
Vor dem Hintergrund, dass im Buch viele geschlechtsspezifische Stereotype bedient werden und an vielen Stellen zu undifferenziert argumentiert wird, halte ich die empfohlenen Podcast-Tipps für problematisch, wenn nicht sogar für fahrlässig. Es werden Beziehungskonzepte und -ideale heroisiert, die bekanntermaßen toxisch sind und von denen die Gesellschaft schleunigst die Finger lassen sollte. Umso kurioser, dass eine Paar- und Sexualtherapeutin solche ominösen Quellen als „Tipps“ vermerkt.
Fazit zum Buch
Ich verstehe den guten Willen hinter dem Buch. Annette Hosenfeld sagt am Ende des Buches selbst, dass sie kein „Patentrezept“ für spannende Sexualität liefern, sie aber vielleicht für etwas Inspiration sorgen könne. Sie lädt außerdem dazu ein, in „menschlich/unmenschlich“, anstatt in „männlich/weiblich“ zu denken, denn Sprache gestalte Wirklichkeit. (Hosenfeld 2022, S. 235/239)
Für Personen, die sich neu mit den Themen Sexualität, Lust und Beziehung beschäftigen möchten, könnte das Buch eine erste Einstiegsliteratur darstellen. Die vereinfachten psychologischen Hintergründe und die praxisorientierten Beispiele veranschaulichen gut, worin es im Kern des Ganzen geht und gehen sollte. Allerdings sollten die Leser*innen dazu in der Lage sein, das Geschriebene kritisch zu reflektieren und nicht einfach so zu übernehmen. Eigentlich hat die Autorin gute Ansätze, nur meiner Ansicht nach nicht besonders gut umgesetzt bzw. sehr widersprüchlich formuliert. Vor allem die geschlechtsspezifischen Verallgemeinerungen und Stereotype können für eine Reproduktion veralteter Denkweisen sorgen. Das ist sowohl für die Entwicklung der lesenden Person, als auch gesamtgesellschaftlich problematisch.
Der Titel „Mit Lust zu Dir – Sexualität als Schlüssel zur Selbstliebe“ verspricht in meinen Augen etwas anderes, als in dem Buch geschrieben wird. Der Ansatz, dass nur wir alleine über unsere Bedürfnisse und somit auch über unsere Lust bestimmen, wird ab und zu angerissen, dabei liegt der Hauptfokus allerdings auf cis-heteronormativer Sexualität. Auch das eigentliche Thema der Selbstliebe, welches so hoffnungsvoll im Titel angestimmt wird, kommt bevorzugt in Verbindung mit der Beziehungsebene vor.
Ist das die Message, die wir 2023 vertreten möchten? Selbstliebe beginnt bei dir, aber funktioniert nicht ohne Partner*in? Ich bezweifle das. Mir fehlt es an Vielfalt. Mir fehlt es an „menschlicher“ Ausdifferenzierung, die mir am Ende des Buches so hoffnungsvoll ans Herz gelegt wurde. Mir fehlt es an neuen Impulsen, die mich wirklich zu mir und meiner Lust führen.
Nina Boekamp
Alternativ-Tipps: Schaut gerne in den Essay „Unlearn Liebe“ von Emilia Roig rein. Zu ihrem Buch „Unlearn Patriarchy“ haben wir ebenfalls eine interessante Buchrezension geschrieben, die ihr hier findet. Ich möchte euch außerdem das Buch „Sie hat Bock“ von Katja Lewina ans Herz legen. Mit viel Witz und Scharfsinn schafft es Katja Lewina die Debatte über das sexuelle Begehren neu zu entfachen, über den sozialisierten Sexismus beim Sex zu sprechen und sich für mehr Empowerment einzusetzen.
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