Melissa Broder gelingt mit ihrem Roman „Muttermilch“ (englischer Titel: „Milk Fed“) nicht nur die Erzählung einer mitreißenden Liebesgeschichte. Es geht gleichzeitig um viel mehr als das: um Religion im engeren und im weiteren Sinne. Um die Macht von Familie und Sozialisation. Und vor allem: um weibliche Körper, Lust und Sexualität.
Inhaltswarnung! Dieser Artikel könnte unangenehme Gefühle hervorrufen und/oder traumatische Erinnerungen auslösen, da das Thema Essstörung angesprochen wird.
Rachel und Miriam könnten unterschiedlicher nicht sein: Rachels Lebensinhalt besteht daraus, Kalorien zu zählen und diese durch Sport und Hungern auf ein Minimum zu reduzieren. Auch ihr Arbeitsalltag in einem Talentmanagementbüro in Los Angeles richtet sich nach ihrem Essensplan. Ihr wichtigstes Ziel: die Kontrolle über ihren Körper und ihr Gewicht. Die Streusel auf dem möglichst kalorienarmen Frozen Yogurt lässt sie weg – sie bergen eine zu große Unsicherheit für ihre Kalorienzufuhr. Ausgerechnet im Frozen Yogurt Laden begegnet Rachel der mehrgewichtigen Miriam, die dort arbeitet. Miriam verkörpert somit, im wahrsten Sinne des Wortes, das Gegenstück zu Rachel. Und das auf vielen Ebenen.
Kontrolle und Befreiung
Wo Rachel zwanghaft ihre Essenzufuhr kontrolliert, isst Miriam leidenschaftlich gerne und viel. Kalorien und gesellschaftliche Körperideale hemmen sie keineswegs. Miriam stellt das Abbild von Rachels Ängsten dar: den Verlust ihres Kontrollzwangs. Trotzdem oder gerade deswegen übt Miriam eine Anziehungskraft aus, der Rachel nicht widerstehen kann. Das Motiv der Kontrolle und die Befreiung von dieser ziehen sich weiter durch das Buch.
Während Rachel von Miriam in eine Welt des Genuss von Essen geführt wird und dabei ihre sich selbst auferlegten Imperative Schritt für Schritt ablegt, steht Miriam vor der Herausforderung ihre Liebe zu Frauen anzuerkennen und sich von religiösen sowie gesellschaftlichen Normen zu befreien. Miriam kommt aus einer jüdisch-orthodoxen Familie, Rachel hingegen hat wenig Bezug zu ihrem jüdischen Glauben. Broder wirft durch die Darstellung der beiden Frauen, die sehr unterschiedliche Lebensstile pflegen, viele grundlegende Fragen auf: Wie frei sind wir eigentlich in den Entscheidungen, die wir treffen? Inwieweit sind wir immer von gesellschaftlichen/religiösen/familiären Erwartungshaltungen getrieben? Sind wir im Grunde nur das, was die Sozialisierung aus uns macht?
Die Alltäglichkeit der Objektifizierung von Frauenkörpern
Broder zeichnet am Beispiel der beiden Frauen die gesellschaftlichen Erwartungen nach, die an Frauen und Frauenkörper geknüpft sind. Rachels Umfeld lässt die Leser*innen nachvollziehen, dass Mädchen und Frauen stets Körperidealen und Erwartungen von außen ausgesetzt sind.
Kommentare von Rachels Mutter „Willst du moppelig sein oder willst du, dass die Jungs dich mögen?“ oder ihrer Arbeitskollegin, die anmerkt, dass sie zugenommen habe, enthüllen die Objektifizierung des weiblichen Körpers, der ständig unter Beobachtung des „male gaze“ steht. Ebenso wirkt durch Broders Buch das omnipräsente Schönheitsideal des Schlank-Seins eindrücklich auf den/die Leser*in und erzeugt ein regelrechtes Unwohlgefühl. Gleichzeitig zeigt Broder die Alltäglichkeit internalisierter Misogynie. Sie stellt eindrücklich dar, dass Frauenhass nicht nur die Diskriminierung von Frauen durch Männer bedeutet. Die Facetten der Frauenfeindlichkeit manifestieren sich gleicherweise in frauenfeindlichen Äußerungen von Frauen untereinander oder in der Abwertung des eigenen Körpers.
Liebe und Sexualität als Entfesselung
Der Roman beschreibt, wie sich zwischen den scheinbar so unterschiedlichen Frauen eine kleine Welt, fernab von gesellschaftlichen Erwartungen eröffnet. Besonders fesselnd ist die Darstellung der Motive von Essen, Hunger, Genuss und Appetit, die an vielen Stellen einen fließenden Übergang hin zu sexueller Lust und Begehren bilden. Detailreiche Ausführungen sexueller Fantasien und die sexuelle Annäherung zwischen den beiden Frauen bricht mit vielen gesellschaftlichen Tabus: weibliche Lust und weibliche Sexualität, Sex zwischen Frauen sowie die Darstellung großer Körper beim Sex ohne jegliche Fetischisierung.
Broder erzählt detailreich von zwei komplexen Charakteren, die durch Religion, Familie und Gesellschaft geprägt sind. Diese bilden gleichzeitig auch einen Spiegel der Gesellschaft ab. Dementsprechend kann das Buch für alle Lesefreund*innen eine spannende Lektüre liefern, die sich nicht von Tabubrüchen, Selbstironie und Provokation abschrecken lassen.
Naomi Zander
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