Die Kompagnie Unusual Symptoms und die ungarische Choreographin Adrienn Hód setzen mit dem aktuellen Tanzstück Coexist ein kritisches Statement zur politischen Lage. Nicht nur in Ungarn, sondern in der ganzen Welt.
Coexist: Arbeit, Krankheit, Liebe, Politik
Es geht schnell voran in Coexist. Wir schauen ins Schwarze. Natürlich ist da Licht, auf der kargen Bühne. Es braucht auch keine aufwändigen Bauten, in den nächsten neunzig Minuten werden uns die Tänzer*innen auf ihre ganz eigene Art packen. Sie treten in nummerierten Kapiteln auf und behandeln treffend die verschiedensten Themen. Dabei spielen sie immer wieder mit unterschiedlichen Formen von Nacktheit. Ein Kapitel öffnet sich. Die unbeteiligten Personen warten am Rand. So herrscht gleichzeitig maximale Transparenz über das Geschehen. Sequenz folgt auf Sequenz. Wir bilden eine imaginäre Gruppe und sind mitgehangen und gefangen in diesen zügig und fesselnd aufeinanderfolgenden Mini-Kapiteln. Jetzt formieren sich neue Gruppen. „For those, who are not here today“, „For those, who never believed in me“, „For my father“, „For censorship“: so benennen die Tänzer*innen am jeweiligen Ende der Szene ihr Kapitel. Wir tauchen als Publikum schnell ins Stück Coexist, in diese aufeinanderfolgenden Kapitel ein. Einerseits ein Kaleidoskop von Problemen. Andererseits fröhliche, aber auch bittere Ironie.
Sichtweisen auf Nacktheit
Die Sichtweisen auf Nacktheit, die letztendlich die gesellschaftlichen Zwänge thematisieren, sind sofort greifbar. Jedes neue Bild am Ende der Sequenz hat einen Titel. Dieser erwischt uns nicht selten bei sehr verbreiteten Vorurteilen. Die Nacktheit hält als Bild her, etwas von sich zu zeigen. Es ist aber nicht das Offensichtliche, was am Ende das Gezeigte begreifen läßt. Und so sind die Darstellungen von Nacktheit eine nicht erwartungskonforme Provokation im Theater. Sie berühren, denn sie packen uns manchmal ironisch, manchmal beiläufig, manchmal verstörend, manchmal lustig, manchmal tragisch. Das, was eine*r von sich preisgibt, ist eben auch im Äußeren unterschiedlich erfahrbar. Es kann ein Statement zum Problem sein. Die kurzen Kapitel bilden kleine Szenen in einer facettenreichen Beobachtung des Alltags. Die Tänzer*innen arbeiten mit präzisen Analysen in absolut kürzester Form. Die verschiedenen Rollen entstehen durch die verschiedenen Situationen, einzelne Charaktere werden neu kombiniert oder gar durchgemischt. Gilt das Gesagte noch? Beim Schauen kommt der Imperativ der Selbstdarstellung in das eigene Bewusstsein. Die Gedanken über die eigene Identität und die Verschiebung der Wahrnehmung, wie sie online oder offline sein könnte, bleiben nicht aus. Die ungarische Choreografin Adrienn Hód läßt die Tänzer*innen sprechen. Das ist für das Genre ungewöhnlich.
„Es ist der Eindruck, angesichts der politischen wie gesellschaftlichen Umwälzungen der Gegenwart nicht länger schweigen zu können, der ihre Performerinnen fortan auch sprechen lässt und die Dringlichkeit ihrer Arbeiten unterstreicht. (…) Nie geht es ihr dabei um bloße Provokation, sondern stets um die Frage, unter welchen Bedingungen sich Gemeinschaften organisiseren, inweifern wir bereit sind, Ambivalenzen auszuhalten und mit mitunter schmerzhaften Wahrheiten umzugehen. Dabei betonen Hóds Arbeiten die Komplexität und Radikalität des persönlichen Ausdrucks und legen die vielschichtigen Konstrukte von Identität offen, die sich jeder ideologischen Vereinnahmung verwehren.“
Gregor Runge im Essay „Auf dem Altar der Kunst“ über die Choreographin Adrienn Hód
Im zweiten Teil wechseln die kapitelartigen Szenen zu einer großen gemeinschaftlichen Tanzwucht. Der elektronische Beat des ungarischen Künstlers Ábris Gryllus erzeugt eine pulsierende Wand, die die Tänzer*innen mit ihrer Performance voll umschließen. Als Publikum bleiben wir ergriffen, betroffen und gleichzeitig glücklich zurück. Der Premierenapplaus spiegelt diese Gefühle wider. Coexist trifft uns mitten ins Herz.
Besetzung
mit Gabrio Gabrielli, Nóra Horváth, Alexandra Llorens, Csaba Molnár, Nora Ronge, Diego de la Rosa, Andor Rusu, Jessica Simet, Young-Won Song, Antonio Stella
Choreografie Adrienn Hód
Künstlerische Mitarbeit Csaba Molnár
Ausstattung Anna Lena Grote
Licht Tim Schulten
Musik Ábris Gryllus
Dramaturgie Gregor Runge
Produktionsleitung Alexandra Morales, Ágnes Básthy
Produktionsassistenz Andy Zondag
Künstlerische Beratung Ármin Szabó-Székely
Termine
Terminseite im Theater Bremen.
Samstag, 14. September 2019, 20:00 Uhr / Wiederaufnahme
Sonntag, 29. September 2019, 18:30 Uhr
Donnerstag, 03. Oktober 2019, 18:30 Uhr
Renate Strümpel
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