Fünfzehn Tage ist es her, dass Darja Serenko in ihrem eigenen Bett schlafen konnte. Dass sie unter Menschen war und das Sonnenlicht auf ihrer Haut spürte. Seit dem 8. Februar 2022 sitzt die 29-jährige Russin im Moskauer Gefängnis. Grund dafür: ein „extremistischer“ Instagram Posts von 2021. Er enthielt Symbole der Anti-Korruptions Stiftung von Alexei Navalny, die in Russland als extremistische Organisation gilt und verboten ist.
Navalny? Navalny! Der russische Oppositionspolitiker und Kreml-Kritiker. Der, der im Februar 2024 in einem Gefangenen-Straflager, laut der Gefängnisverwaltung “verstarb”. Oder getötet wurde?
Darja kannte Navalny, sie teilte seine oppositionelle Haltung. Denn Darjas Geschichte ist eine wahre Geschichte.
Der Morgen des 24.Februars 2022 markiert für sie zwei Dinge: Der erste Morgen nach ihrer Freilassung und der erste Morgen in Unfreiheit.
Der 24.Februar 2022 war der Tag der russischen Invasion in der Ukraine. Der Start eines nun über zweieinhalb Jahre anhaltenden Angriffskriegs, geführt vom russischen Präsidenten Putin.
Dass Darja Putins Kriegsagenda verabscheut ist schnell klar. Nichtmal 48 Stunden dauerte es, bis sie sich, gemeinsam mit anderen Feminist*innen in Russland, zu Wort meldete. Das Manifest der „Feminist Anti-War Resistance“ vom 27.Februar 2022 hat sie mit ihren Namen unterschrieben. In einem veröffentlichten eigenen Statement ruft sie auf:
Hört auf, erbärmliche Feiglinge, Konformisten, geduldige Leidende, loyale Bürger zu sein. Hört auf, apolitisch zu sein. […] Unsere Apathie könnte die Ursache für die Zerstörung einer großen Anzahl von Menschen, einschließlich unserer Kinder und Lieben, sein. […] Hört auf, Propaganda zuzuhören. Stirbt nicht wie Narren. […| Schließt euch den Anti-Kriegs-Aktivisten und -Bewegungen an. Protestiert gegen diesen Krieg. Selbst wenn ihr Putin-Unterstützer seid, ich bezweifle, dass ihr Selbstmord-Unterstützer seid. Wir dachten, es würde keinen Krieg geben, aber der Krieg ist gekommen. […] Hört auf zu jammern, wie sehr ihr unter Untätigkeit leidet. Die Ukraine leidet. Handelt. All diese harten Worte richte ich nicht nur an andere, sondern auch an mich selbst.
Darja Serenko
Darja Serenko ist Dichterin, Autorin, feministsich-politische Aktivistin und noch vieles mehr. Sie wurde vom britischen Nachrichtensender BBC zu einer der erfolgreichsten 100 Frauen des Jahres 2023 und von Russland zur „ausländische Agentin” erklärt. Mittlerweile lebt die Aktivistin außerhalb von Russland. Mittlerweile lebt sie in Georgien. In einem Interview mit der staatskritischen russischen online Plattform Colta, erzählt sie schon 2016, wie wichtig ihr das Thema Gewalt gegen Frauen ist, wie sie Menschen sensibilisieren und Diskussionen anstoßen möchte. Und das auf eine tiefgründige und persönliche Weise. Damals führte sie für einen längeren Zeitraum die Aktion „Stillstand“ durch. Seit dem 08.März 2016 trägt sie stets selbstgemachte Plakate mit sich, wenn sie die Moskauer U-Bahn fährt. Mit Aufschriften gegen Sexismus, häusliche Gewalt, Homophobie und politische Gefangenschaft protestierte sie ganz still, ohne lauten Aktivismus, mit der Hoffnung neue Dialoge herzustellen und Gespräche zwischen den Passagieren zu schaffen.
Mädchen und Institutionen
„Was unterscheidet Mädchen von Institutionen?
Mädchen altern nicht.
Mädchen gehen zum heulen auf die Toilette.
Mädchen verspäten sich und haben ein auf links gedrehtes Kleid an.
Mädchen werden von der Polizei vorgeladen.
Mädchen können Fick dich sagen.“ (S.17)
Im November 2021, drei Monate vor Beginn des Kriegs, veröffentlichte Darja Serenko in Russland ein schmales Büchlein mit dem Titel “Mädchen und Institutionen“. In den Texten lässt sie ihrem poetischen Talent freien Lauf und dichtet über sogenannte Mädchen, die in Russland in staatlichen Institutionen arbeiten, von Büro zu Büro wandern und deren Alltag von ihrer Arbeit geprägt ist.
Ein Bild von Monotonie und Misogynie, überspielt von sporadischem Zusammenhalt und Zugehörigkeitsgefühl. Für die Texte sammelte Darja ihre eigenen Erfahrungen als Mitarbeiterin in staatlichen Kultureinrichtungen, wie Bibliotheken und Galerien, sowie die vieler anderer Frauen, die in diesem System stecken. Nicht zuletzt durch die Illustrationen von Ksenia Chariyeva zeichnet das Buch ein Bild vom Frausein in Russland, patriarchaler Unterdrückung der Individualität und dem Elend in der Monotonie ab.
“Als ich meine erste Stelle in einer staatlichen Einrichtung antrat, sah ich zunächst einmal nur Mädchen. So nannten sie sich selber […] wenn ich die Mädchen studierte, wenn ich sie aus meiner Spinnenecke heraus beobachte, ertappte ich mich oft bei reflexhaften Urteilen – ein wenig von oben herab, ironisch, zärtlich verniedlichend, strickte ich am Mythos der weiblichen Kollektivität” (S.8)
“Wie sehr die Mädchen auch aus ihren Institutionen wegstreben, die Institutionen holen sie stets wieder ein und schlagen über ihrem Kopf zusammen. Jede Arbeit ist zu einer Arbeit für die herrschende Ordnung geworden, weil diese Ordnung ohnehin in der Luft liegt, durch Atmung und Herzschlag internalisiert und mit unseren Tränen und Schweißtropfen ausgeschieden wird.“ (S.67)
“Mädchen sind Versorgungsleitungen und Heizungsrohre, die das ausgekühlte staatliche Innenleben durchziehen. Wenn die Mädchen innehalten und aufhören zu arbeiten – Gott weiß, was dann mit uns allen passiert […] Liebe Mädchen, ich glaube wir brauchen einen tödlichen Streik. […] Das Leben ist unerträglich geworden” (S.56)
Ich wünsche Asche meinem Haus
Auch während ihrer Gefangenschaft im Februar 2022 lässt ihre poetische Ader Darja nicht im Stich. So schreibt sie schon in ihrer Zelle an einem Textzyklus, genannt “Ich wünsche Asche meinem Haus”. Hier verbindet sie lyrische Affinität mit Geschichten aus ihrem Leben als Aktivistin in Russland, dem Alltag als Gefangene und ihrem Leben im Exil. Ob Gefängnisprosa, Antikriegs-Lyrik oder feministische Revolte, Darja Serenko kombiniert sie alle. In einer Widmung wendet sie sich an die Aktivist*innen der feministischen Antikriegsbewegung.
„Ich sitze alleine in einer Zelle für fünf Personen […]. Unter Zwang dorthin verfrachtet hatten mich zwei Männer in Zivil, die sich als Mitarbeiter der Kriminalpolizei vorstellten. Ironischerweise stürmten sie in dem Moment das Café, als ich gerade eine Widmung für meinen Freund Pjotr in mein Buch “Mädchen und Institutionen” geschrieben hatte: “Russland wird frei sein – und das feiern wir beide auf jeden Fall. Mit diesem Buch wurde ich einkassiert. In den kommenden 15 Tagen wird Russland offenbar nicht frei sein” (S.80)
“Das Ziel einer solchen Haft wie meiner ist simpel: die Aktivistin in der Aktivistin abtöten, um andere abzuschrecken; meine Kraft und meine Gesundheit zu untergraben” (S.105)
“Die Menschen wollen ihr Leben leben. Sogar Tote wollen ihr Leben leben […] Die Leute wollen kein Krieg. Doch sie gehen in den Krieg, auch wenn sie ihn nicht wollen. Sie spalten sich auf und gehen hin. Guck, der Mann da ist an zwei Orten gleichzeitig – er küsst sein Kind auf die Stirn und schießt einem anderen eine Kugel in den Kopf.” (S.112)
Darjas Werke “Mädchen und Institutionen” und “Ich wünsche Asche meinem Haus” sind zu einem Buch zusammengefügt und von Christiane Körner ins Deutsche übersetzt worden.
Das vollständige Buch mit dem Titel „Mädchen und Institutionen – Geschichten aus dem Totalitarismus” erschien 2023 im Suhrkamp Verlag – eine klare Leseempfehlung unserer Redaktion.
“Der Umbruch, den Ukrainer*innen seit Beginn der Invasion spüren, zieht auch an Darjas Buch nicht vorbei. Hier verschmelzen aussagekräftige Texte, poetische Affinität und berührende Illustration” – Helena von frauenseiten
Dieser Artikel ist der zweite Teil eines Zweiteilers namens „Feminist Anti-War Resistance“. Der erste Artikel handelt von der Organisation „feministischer Antikriegswiderstand“, ihrer Arbeit in Russland und den Bedingungen, denen Russlands Aktivist*innen in einem zunehmend repressiven und autoritären Regime begegnen. Hier zum Artikel
Helena Bizarmanis
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