Achtung: Das Buch enthält Darstellungen von psychischer, physischer und sexualisierter Gewalt. Dieser Text dementsprechend auch. Leser*innen sollten sicherstellen, dass sie sich beim Lesen gut fühlen oder gegebenenfalls nicht alleine sind.
Jella und Yannick. Yannick und Jella.
Es klingt toll, es sieht toll aus, es passt perfekt. Alle sagen das – auch Jella und Yannick. Doch die Realität sieht ganz anders aus.
Von BookTok zu Buchpreis
Zugegebenermaßen bin ich über TikTok auf Ruth-Maria Thomas‘ Debüt „Die schönste Version“ gestoßen – ein Roman, der dort viral ging. Neugierig durch die vielen positiven Reaktionen, begann ich zu lesen und verstand schnell, warum das Buch so viel Aufmerksamkeit erhält. Die Autorin nimmt sich einem brisanten und doch alltäglichen Thema an: toxische Beziehungen und Gewalt gegen Frauen. In ihrem prägnanten, eindringlichen Stil zeichnet sie das Bild von Jella, einer Frau, die zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und persönlichen Traumata ihren Weg sucht. Der Roman findet sich mittlerweile auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2024.

Worum geht es?
Der Roman beginnt auf dem Polizeipräsidium. Jella zeigt ihren Freund Yannick an, denn er hat sie in ihrem letzten Streit gewürgt. Es geht um die elf Tage nach der Anzeige – und die vielen Jahre davor. Jella nimmt uns mit in ihre Kindheit und Jugend in einer ostdeutschen Kleinstadt. Wir erfahren, wie sie durch ihre Umgebung und Erfahrungen geprägt wurde und was es bedeutet, als junge Frau in einer patriarchalen Gesellschaft aufzuwachsen. Von Glitzer-Lipgloss und Gangster-Rap bis hin zu den subtilen und offenen Formen der Gewalt, die sie erlebte. Sie schildert Situationen, die viele Frauen sicherlich kennen. Dabei zeigt sich nach und nach, wie sich ihre toxische Beziehung zu Yannick entwickelt, wie die Gewaltspirale entsteht – und wie es letztendlich dazu gekommen ist, dass er sie gewürgt hat.
„Danach. Das Abtun, als wäre nichts gewesen. Als würdest du übertreiben. Dann wirst du selbst unsicher, zweifelst, bekommst das Gefühl, dass du deiner eigenen Angst nicht mehr vertrauen kannst. Und dann. Wischst auch du es weg, als wäre es nichts, nur ein Teil des Streits, keine lebensbedrohliche Situation, die dich verfolgt, bis in deine Träume.“ – Ruth-Maria Thomas, „Die schönste Version“
Wir kennen die Zahlen: Alle vier Minuten wird eine Frau Opfer männlicher Gewalt und jeden zweiten Tag wird eine Frau von ihrem (Ex-)Partner getötet. Ruth-Maria Thomas zeigt unverblümt die Gewalt, die viele Frauen in Beziehungen erleben. Gaslighting und emotionale Manipulation führen dazu, dass Jella ihre eigene Haltung immer weiter hinterfragt, bis sie sich selbst nicht mehr wiedererkennt. Ihre Erlebnisse in der Kindheit und Jugend, geprägt von stereotypen Geschlechterrollen, verstärken die spätere Dynamik in ihrer Beziehung zu Yannick.
Erschreckend „relatable“
Ruth-Maria Thomas schreibt klar und eindringlich. Ihre Sprache ist direkt und verstärkt so die Intensität der behandelten Themen. Die Rückblenden sind geschickt in die Erzählung eingebunden und geben der Leser*in ein Gefühl für Jellas Entwicklung. Trotz der Schwere des Themas bleibt der Roman durch die Erzählweise zugänglich und authentisch.

Bei einer Lesung im Buchladen Ostertor hatte ich die Gelegenheit, Ruth-Maria Thomas persönlich zu erleben. Sie selbst ist in Ostdeutschland aufgewachsen, hat in Leipzig am Deutschen Literaturinstitut studiert und ist Mitgründerin des erotischen Literaturmagazins Hot Topic!. Ihre persönlichen Einblicke in den Schreibprozess und ihre Überlegungen zu Jellas Entwicklung haben meine Sicht auf das Buch nachhaltig geprägt. Diese Lesung hat das ohnehin schon bewegende Leseerlebnis für mich noch intensiviert.
„Die schönste Version“ ist ein Roman, über den ich noch lange nachdenken werde. Ruth-Maria Thomas schildert die Dynamik toxischer Beziehungen und die alltäglichen Erfahrungen vieler Frauen so intensiv, dass ich als Leser*in oft innehalten musste. Ich wollte Jella schütteln, ich will ihr sagen „Nein, so muss das überhaupt nicht sein“ und gleichzeitig kann ich so gut verstehen, warum sie so handelt, wie sie eben handelt. Es ist kein einfaches Buch und es sollte mit Bedacht gelesen werden, da die beschriebenen Szenen von psychischer, physischer und sexualisierter Gewalt emotional sehr belastend sein können. Trotzdem finde ich dieses Buch, das einen klaren und ungeschönten Blick auf Gewalt gegen Frauen wirft, so wichtig und unbedingt lesenswert.
Das Hilfetelefon für Gewalt gegen Frauen erreicht ihr unter 116 016
Jette Koch
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