Gerade habe ich bemerkt, dass ich zum ersten Mal von einer Autorin ein zweites Buch vorstelle. Und das ist natürlich kein Zufall. Der neue Roman von Dörte Hansen knüpft an ihr erfolgreiches Buch „Altes Land“ – und doch wieder nicht. Wie gut sie schreiben kann, wussten wir ja bereits von ihrem ersten Roman , wo sie in wunderbar leichtem spöttischen Ton erzählt, wie alle ihr Fett wegkriegen, Städter wie Landvolk, wo jeweilige Mythen mit viel Witz zerstört werden. Und wo doch eine freundliche Färbung auf allem liegt. Aber wer gedacht hat, Hansen würde da einfach in Neuauflage weiter erzählen, der hat sich geirrt. Diesmal kriegen wir ein härteres Kaliber der norddeutschen Tiefebene zu spüren, wo die tröstlichen Momente ziemlich rar sind. Eine tiefe Melancholie durchweht hier das nordfriesische Land, das von Wind und Wetter geschliffen und gebeugt wird. Und wo der Mensch nicht die Hauptrolle spielt.
Ingwer Feddersen ist fast 50, kinderlos, arbeitet als Geologie-Professor in Kiel und lebt in einer Dreier-WG. Aber seine Wurzeln hat er auf dem platten Land Nordfrieslands, im Dorf Brinkebüll. Er hat ein Sabbatjahr genommen, um sich um die Letzten seiner Familie zu kümmern, die beiden alten Feddersens, nun, wo Ella dement und Sönke körperlich hinfällig geworden ist. Der Gasthof, der ihr Leben war und den Ingwer mal übernehmen sollte, ist heruntergekommen und dem Dorf insgesamt ist es nicht besser ergangen. Auf seinen Fahrten zurück nach Hause ziehen vor Ingwer die Bilder der Landschaft, der Dorfgeschichte, der BewohnerInnen und seiner Kindheit vorbei. Die verrückte Marret, die auf ihren Klapperlatschen um die Häuser lief; der Dorfschullehrer Steensen, der alle Schüler mit Leidenschaft und harter Hand in einem Raum unterrichtete; die griesgrämige Dora Koopmann in ihrem Lebensmittelladen, die Bauern, die nach der Arbeit ihren Schnaps bei Feddersens kippten.
Auf der Suche nach den Wurzeln
Ingwers Wege zwischen Kiel und Brinkebüll markieren die Pole in seinem Leben, die gegensätzlicher nicht sein könnten: seine WG, ein Fossil aus den Sechzigern – „Fünf Zimmer, Küche, Bad, zwei Männer, eine Frau, nichts Halbes und nichts Ganzes“; die Architektin Ragnhild, eine kapriziöse Verwandlungskünstlerin, Tochter reicher Eltern, im Kontrast zu ihrem etwas zwanghaften Boheme-Leben, und Claudius, ein erfolgreich gescheiterter Jurist und Selbstdarsteller, der seit 20 Jahren als Skipper mit Jacht durchs Leben tingelt. Und eben Dr. Ingwer Feddersen, der irgendwie nicht so ganz passt, der seine Herkunft als Landei nie ganz loswird. Die WG mit der undefinierten Beziehung zu Ragnhild und Claudius hat zu bröckeln begonnen, der Hochschuljob rückt allmählich von ihm weg.
Im ruhigen Tempo des Landlebens und in weiten Zeitsprüngen erzählt Dörte Hansen die Geschichte. Auch die Katastrophen, von denen es einige gab im Dorf, kleine und große. De Welt geiht ünner“, sagte ein ums andere Mal Marret, die mit ihrem zerfledderten „Erwachet!“-Heft herumlief und die Zeichen sah. Ja und es gab und gibt auch Familiengeheimnisse im Dorf, aber diese Geheimnisse sind nicht „dunkel“, hier sind sie bekannt und zugleich unausgesprochen, sie schleppen sich bleiern und zäh durch die Jahrzehnte, wie das vaterlose Kind von Marret, das Verhältnis von Ella mit dem Lehrer und nicht zuletzt Marrets und Ingwers eigene Herkunft.
Das Dorf und seine Regeln
Der Niedergang des dörflichen Lebens nach Flurbereinigung und Bauernsterben schlägt sich in allen Familien unterschiedlich, aber unaufhaltsam nieder. Die sozialen Strukturen ändern sich nur mühsam. Da kommt es vor, dass Menschen sich „in Grund und Boden schweigen“, weil sie schmerzhafte Momente nicht teilen können. Da werden die Dorffeste gefeiert, ob man will oder nicht: runde Geburtstage ab vierzig, die Hochzeitstage, egal ob man sie bezahlen kann oder nicht. „Die Feste wurden nicht zum Spaß gefeiert, nicht aus Lebensfreude oder Dankbarkeit für fünfundzwanzig Ehejahre. Sie dienten einem Zweck, sie regelten das Dorf. Einladen und eingeladen werden, man kannte die Gesetze und befolgte sie, wenn man ein Dörpsminschwar.“ Ingwer ist derjenige, der aus dem Dorf ausbricht, und er trägt das unbewältigte Gefühl des Verrats mit sich herum, das sich auch nicht durch seinen Dienst an den beiden Alten abgelten lässt. Aber die einfachen Arbeiten gefallen ihm, wie Sönke waschen, mittags das Essen auf den Tisch bringen, Fenster putzen und darauf aufpassen, dass Ella ihm nicht wegläuft,. Sie will dann ins Dorf, wie sie es von früher kannte. Die Nachbarn drehten mit ihr eine Runde, bis sie vergessen hatte, was sie suchte.
Dass dieses Buch uns beim Lesen nicht in eine schwere Depression stürzt, liegt an dem trockenen Ton, mit dem Dörte Hansen auch den tragischsten Ereignissen und traurigsten Zuständen zu Leibe rückt. Sie beherrscht meisterhaft diese präzise, eher knappe Sprache, die in ihrer Sparsamkeit Gefühle dennoch treffend darstellt, vielleicht gerade dadurch, dass nicht alles gesagt wird, was im Raum steht – wie die Beziehungen der Menschen auf dem platten Land eben sind.
Sie beobachtet genau, so kann nur jemand schreiben, der das Landleben durch und durch kennt. Des Öfteren streut sie Plattdeutsches ein, weil es genauer ausdrückt, was den Menschen in Nordfriesland durch den Kopf geht und wie sie miteinander umgehen. Ob LeserInnen südlich von Verden das nachvollziehen können, da bin ich mir nicht ganz sicher. Dabei ist es so ein tolles Buch, das es verdient hat, nicht nur von Norddeutschen gelesen zu werden!
»Mittagsstunde« ist im Herbst 2018 im Penguin Verlag erschienen, hat 319 Seiten und
kostet 22 €.
Dörte Hansen, geboren 1964 in Husum, arbeitete nach ihrem Studium der Linguistik als NDR-Redakteurin und Autorin für Hörfunk und Print. Ihr Debüt »Altes Land« wurde 2015 zum »Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels« gekürt und avancierte zum Jahresbestseller 2015 der Spiegel-Bestsellerliste.
Ime meint
… ich komme von „südlich von Verden“ und finde dieses Buch absolut genial – ebenso wie diese Rezension! Und an alle, die meinen, nach Lektüre dieser ausführlichen Besprechung schon alles über das Buch zu wissen, mein Rat: unbedingt selbst lesen!!!