In Usbekistan hatte das Jahr 1991 und die Unabhängigkeit von der Sowjetunion einen großen Einfluss auf die Institution Familie und das Familienmodell. Begann damit doch ein neuer marktwirtschaftlicher Weg in der sozial-ökonomischen Entwicklung des Landes. Auf diese Weise sind auch neue Tendenzen in der Gesellschaft entstanden. Dazu gehören die steigende Zahl der Scheidungen, die sinkende Zahl der Eheschließungen und die niedrigere Geburtenrate. Das Statistische Amt der Republik Usbekistan belegt diese Tendenzen mit statistischen Daten zur familienpolitischen Situation.
Zahlen und Fakten zur familienpolitischen Lage in Usbekistan
So hat sich beispielsweise die Zahl der jährlichen Eheschließungen von 1991 bis 2005 um 32 % verringert. Dabei wird jede zehnte Ehe geschieden. Von 2013 bis 2016 verringerte sich die Zahl der jährlichen Eheschließungen um nochmals 10 %. Die Zahl der Scheidungen hat sich demgegenüber um 22 % erhöht – eine Bedrohung für die Institution der Familie? Die Geburtenrate beträgt 2016 rund 2,4 Kinder pro Frau, wobei sie bei Stadtbewohnerinnen wiederum bei nur noch rund 2,2 Kindern liegt.
Die Institution Familie im Wandel
Davon ausgehend kann man die Schwächung des „Männlicher-Ernährer-Familienmodells“ konstatieren, das vom Streben der Frau nach finanzieller Unabhängigkeit begleitet wird. Die Institution einer kinderreichen Familie, wie man sie bisher in Usbekistan kannte, ist damit ins Wanken geraten und gehört wohl der Vergangenheit an. Das steht im Widerspruch zu den Interessen der beiden familien- und emanzipationspolitisch entgegengesetzten Lager – sowohl den national-säkularen wie den national-religiösen ideologischen Kräften Usbekistans. Die Wichtigkeit des Erhalts der traditionellen usbekischen Familie ist deshalb auf höchster Regierungsstufe anerkannt. Der Staatspräsident Schawkat Mirsijoev bezeichnet die Stärkung der „für das ganze Volk heiligen Familiengrundsätze[n] und Schaffung der familienfreundlichen Atmosphäre als eine wichtige aktuelle Aufgabe des Landes“.
Abhängigkeitsfalle: Teilzeitbeschäftigung
So stellt beispielsweise die stark verbreitete Teilzeitbeschäftigung von Frauen ein Mittel des usbekischen Staates dar, welches darauf abzielt, die reale Arbeitslosenquote im Land zu verringern. Die offizielle Statistik hilft dem Staat, indem sie nicht zwischen Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigung unterscheidet. Denn der Anteil von Frauen in Teilzeitarbeit im internationalen Vergleich könnte das Niveau der Unvereinbarkeit von Beruf und Familie, und damit die Unentschiedenheit von Politik und Kultur signalisieren. Die ideologisch national-religiösen Kräfte propagieren von ihrer Seite das Familienmodell des männlichen Ernährers als ein besseres Muster für Familienbeziehungen, weil das zur finanziellen Abhängigkeit der Frau von ihrem Mann führt. Die Verbreitung der Teilzeitbeschäftigung, mit der die Frauen ihr Selbstbewusstsein verlieren, tut ihnen daher gute Dienste. Deshalb ist der Erhalt der traditionellen Institution der Familie durch die Verbreitung der Teilzeitarbeit von beiden emanzipationskritischen Lagern erwünscht.
Im Zwiespalt zwischen Ehe und Emanzipation
Die Statistik belegt außerdem, dass der Anteil von Frauen, die studieren, im Vergleich zum entsprechenden Anteil der Männer im Jahre 2016 bei 38,2 % zu 61,8% lag. Der Anteil von erwerbstätigen Frauen mit Hochschulabschluss ist jedoch genauso hoch wie der Anteil von Männern. Er liegt bei ca. 34 %. Davon ausgehend ist die aktuelle familienpolitische Situation in Usbekistan von zwei gegenläufigen Tendenzen gekennzeichnet. Einerseits wollen junge, gebildete, ambitionierte Frauen ihre Emanzipation und wirtschaftliche Souveränität durch eine eigene Karriere realisieren. Andererseits sind Ehe, Familie und Kinder wegen der aufgezwungenen Meinung durch die islamisch geprägte Gesellschaft für fast alle Frauen überaus positiv konnotiert.
Doppelkarrierepaar – das neue Familienmodell
Die gegenwärtige berufliche Verwirklichung von usbekischen Frauen sowie die konsequente Bedrohung der Institution Familie machen es nötig, ein neues Familienmodell zu betrachten und anzuerkennen: ein Familienmodell, bei dem beide Partner*innen eine eigenständige Karriere mit einem erfüllten Familienleben verbinden möchten – das Modell der Doppelkarrierepaare (Dual Career Couples – DCCs). Bei folgendem Befund für Deutschland findet sich eine Parallele zu Usbekistan:
„DCCs brechen mit ihrem Lebensmodell die traditionelle Rollenverteilung auf und tragen damit zu einer Modernisierung gesellschaftlicher Strukturen bei.“
Dabei haben auch die Ausbildungs- und Arbeitsmärkte einige Schnittpunkte. „Das veränderte Ausbildungsverhalten von Frauen erhöht die strukturellen Chancen, dass sich Männer und Frauen in den Bildungs- und Ausbildungsinstitutionen kennen lernen,“ so Dr. phil. Susanne Dettmer in ihrer Dissertation. Nach Dettmner „sind die Bildungsinstitutionen somit ein sehr wichtiger Heiratsmarkt.“
Nach wie vor würden die meisten Ehen zwischen Angehörigen gleicher Bildungs- und Einkommensschichten geschlossen, so fährt sie fort. Außerdem wird der vermutete Zusammenhang zwischen der Zunahme von Frauen mit höheren Bildungsabschlüssen und der Zunahme von DCCs bestätigt. Diese Trends lassen sich auch in Usbekistan vorfinden.
Wissenschaftssektor als Forschungsfeld zu Doppelkarrierepaaren
Beruflich geben Frauen unter den Wirtschaftsbereichen Usbekistans dem Bildungs- und Wissenschaftsbereich den Vorzug. Deshalb ist dieser Sektor von einem hohen Anteil weiblicher Beschäftigter geprägt: 13,8 % aller usbekischen Frauen sind darin tätig. Einen größeren Anteil beschäftigter Frauen hat mit 26,3% nur die Landwirtschaft, die noch aus sowjetischer Zeit den Hauptwirtschaftssektor Usbekistans bildet. Im Vergleich dazu sind im Bildungs- und Wissenschaftssektor nur 3,7 % der usbekischen Männer beschäftigt. Das bedeutet, dass 75,6 % der Arbeitsplätze in diesem Sektor von Frauen besetzt sind. Führungspositionen besetzen jedoch lediglich 3,8 % der Frauen. Deswegen stellt dieser Wirtschaftsbereich ein spannendes und dankbares Forschungsfeld für die Untersuchung von Karrierewegen der Frauen dar, die sich für eine Doppelkarriere und zugleich für Vereinbarungsmöglichkeiten der Karriere mit Familie und Kindern interessieren.
Vereinbarkeit von Karriere und Familie fördern
Allerdings fehlen vor diesem Hintergrund weiterführende Erkenntnisse über andere Rahmenbedingungen, die die Familien- und Karriereentwicklung beeinflussen. Davon ausgehend und angesichts der vergleichbaren Tendenzen in Deutschland ist es sinnvoll, deutsche Erfahrungen mit der Arbeitskraft von Doppelkarrierepaaren zu erforschen und nach Usbekistan zu transferieren. Das würde die Unterstützung, Beratung, Begleitung und Orientierung bei der Stellensuche umfassen, ebenso wie die Herstellung von Kontakten zu Arbeitgebern in der Region, aber auch bei Karrierefragen zu Weiterbildungs‐ und Qualifizierungsangeboten, Stipendien und Sprachkursen, sowie die Förderung der Vereinbarkeit von Karriere und Partnerschaft beziehungsweise Familie.
Lola Sabirova
Schreibe einen Kommentar