In unserer neuen Reihe “Ein Jahr Bremische Bürgerschaft” stellen wir euch vier Politiker*innen vor, die seit letztem Jahr Abgeordnete in der Bremischen Bürgerschaft sind. Wir möchten euch einen Einblick in das Berufsfeld “Politiker*in” geben und junge Stimmen einfangen, die seit 2023 in der Bremischen Bürgerschaft mitmischen.
Den Anfang macht Selin Arpaz. Selin ist von der SPD und Sprecherin für Jugend, Gleichstellung und Queer. Wir hatten die Möglichkeit mit ihr in einem Interview über ihre ersten Erfahrungen in der Bürgerschaft zu reden. Für das Gespräch ist Selin im Mai zu uns in die Redaktion gekommen.
frauenseiten: Wie würdest du dein erstes Jahr als Abgeordnete in der Bremer Bürgerschaft zusammenfassen? Gab es Herausforderungen und Erfahrungen, die überraschend waren?
Selin Arpaz: Die ersten zwei Wörter, mit denen ich das Jahr grundlegend beschreiben würde, sind ziemlich spannend, aber auch stressig. Ich glaube, es ist nicht überraschend, wenn ich sage, dass niemand als Politiker*in geboren wird. Deswegen habe ich versucht, da ganz locker ranzugehen und mir Zeit zu geben.
frauenseiten: Gab es im ersten Jahr schon Momente, in denen du gemerkt hast, dass das, was du machst, was bewirkt? Also dein politisches Engagement und das, was du in der Bremer Bürgerschaft so machst. Oder ist es für dich noch zu früh, um konkrete Momente benennen zu können?
Selin Arpaz: Bezogen auf konkrete Projekte kann ich tatsächlich noch nicht viel sagen, weil es gerade haushaltslose Zeit ist. Der “Ja heißt Ja”-Antrag, der eine große Initiative werden soll, ist ein Projekt, das ich ziemlich gut finde und bei dem ich es wichtig finde, sich lauter und stärker zu machen.
In einem Parlament sitzt man nicht alleine mit seinen politischen Interessen und man sitzt auch nicht alleine innerhalb eines linken Spektrums. Es sind nicht nur linke Interessen, sondern auch rechtere oder konservativere Interessen, die vertreten werden. Was ich in diesem Jahr ernüchternd zu sehen fand, ist, dass das, was für meine Bubble und mich gute Politik ist und das, was gesellschaftlich wichtig voran zu kriegen ist, gar nicht das Interesse der gesamten Gesellschaft ist. Das bringt einen öfter auf den Boden der Tatsachen.
Ich bin zwar jetzt ein Jahr lang Abgeordnete und trotzdem ist es so, dass ich immer noch davon geflasht bin, Abgeordnete zu sein. – Selin Arpaz
frauenseiten: Wir hatten gerade im Vorgespräch mit der Redaktion das Thema angeschnitten, das man sich manchmal als junge Person nicht so ernst genommen fühlt. Gab es in deinem ersten Jahr als Abgeordnete Momente, in denen du dich aufgrund des Alters oder der Unerfahrenheit oder auch wegen des Geschlechts nicht ernst genommen gefühlt hast?
Selin Arpaz: Es ist tatsächlich so, dass es das in diesem Jahr noch nicht auf direkte Art und Weise gab. Es ist oft eher das indirekte Verhalten, was mir gegenüber zum Ausdruck gebracht wird. Auf Veranstaltungen sehe ich oft, dass alle Leute in Gesprächen sind, aber in der Regel nicht mit mir gesprochen wird. Oder ich unterhalte mich mit Leuten und weitere Leute kommen dazu und sie sagen der gesamten Runde “Hallo” oder reichen die Hand, aber mir nicht.
Eine Frage, die mich sehr oft beschäftigt, ist die, was ich anziehe. Ich finde, dass es egal sein sollte, was ich anziehe und wie ich auftrete. Ich habe aber das Gefühl, wenn ich eine grüne Mütze, ein pinkes Shirt und meine bunten Sneaker anhabe, werde ich weniger ernst genommen, als wenn ich meinen grauen Anzug und mein weißes Blüschen anhabe. Dabei zählt doch eher, was in mir drin steckt und was ich zu bestimmten Themen zu sagen habe.
frauenseiten: Hast du konkrete Maßnahmen für die Zukunft, um die Interessen und Anliegen von FLINTA*-Personen oder anderen unterrepräsentierten Gruppen in der Bürgerschaft zu vertreten?
Selin Arpaz: Ich habe drei ganz wichtige Themen, die mir sehr am Herzen liegen. Der Gender Pay Gap ist ein fundamentales Thema, was mich total beschäftigt. Es ist nicht nur ein feministisches Thema, wie manche es degradieren. Es ist auch ein arbeitsmarktpolitisches Thema. Es ist diese Care-Arbeitsfalle: In heteronormativen Familien solltest du als Frau gar nicht so viel arbeiten gehen, weil es sich für die Familie mehr lohnt, wenn der Mann arbeiten geht, weil er sowieso viel verdient.
Der zweite Themenblock, der mir wichtig ist, ist patriarchale Gewalt. Es ist unfassbar schockierend, wie viele FLINTA* in unserer Gesellschaft unter patriarchaler Gewalt leiden müssen. Wie kriegen wir es hin, dass wir präventive Aufklärungs- und Bildungsarbeit leisten und gegen toxisch männliche Denkmuster und Strukturen vorgehen?
Das dritte Thema ist feministische Stadtplanung und Entwicklung. Wie kriegen wir eine Stadt für alle hin? Wie bekommen wir eine Stadt hin, die nicht nur für Blechkarren und Parkplätze da ist, sondern auch Raum für Entfaltung und Aufenthalt hat?
frauenseiten: Gibt es für dich in der politischen Arena Möglichkeiten, um Geschlechtervielfalt und Geschlechtergerechtigkeit weiter zu fördern? Seit der letzten Legislaturperiode ist der Frauenanteil von 36,9 auf 42,5 Prozent gestiegen. Das ist schon mal eine positive Entwicklung. Gibt es Möglichkeiten, diesen Prozess noch mehr zu fördern und FLINTA*-Personen dazu zu ermutigen, in die Politik zu gehen?
Selin Arpaz: Das, was offensichtlich ist, ist der Bereich Empowerment und Mentoring von FLINTA*-Personen. Es geht nicht nur darum, sie zu ermutigen und zu empowern, sondern ihnen einen Blick hinter die Kulissen zu gewähren, weil das oftmals die Hürde ist, die dafür sorgt, dass FLINTA* nicht politisch aktiv werden können. Ihnen wird der Zugang zu bestimmten Dingen in unserer Gesellschaft verwehrt.
Ein Parlament ist dafür da, die Gesellschaft abzubilden. Und die Gesellschaft besteht nicht zu 42 Prozent aus Frauen, sondern eben zur Hälfte. – Selin Arpaz
frauenseiten: Abschließend die Frage, die in Richtung Repräsentation geht: Warum sollten sich junge Menschen einbringen? Warum sollten sie sagen “Ich sehe, dass ihr Politiker*innen das macht und ich würde das auch gerne machen”? Und wie könnte man junge Menschen dazu ermutigen, darauf Lust zu haben?
Selin Arpaz: Es gibt die Shell Jugendstudie, die ergeben hat, dass junge Menschen das Gefühl haben, dass Politik über sie und nicht mit ihnen gemacht wird. Das finde ich total erschreckend, aber ich kann sehr gut nachvollziehen, dass es das ist, was bei ihnen ankommt und unter Politik verstanden wird. Repräsentation führt dazu, dass sich immer mehr junge Leute dazu ermutigt fühlen, selbst aktiv zu werden.
Junge Menschen sollten sich in die Politik einmischen und sie mitbestimmen, weil demokratische Prozesse unfassbar langwierig sein können. In der Regel sind die Dinge, die man auf den Weg bringt und die man beschließt maßgeblich für die Zukunft von jungen Menschen. Damit möchte ich aber nicht sagen, dass junge Menschen aktiv sein müssen, damit ihre Belange gehört werden. So sollte es nämlich auch nicht sein. Nichtsdestotrotz ist es eine ganz wichtige Schlüsselfunktion.
Lena
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