Dame Stephanie Shirley erzählt in ihren Memoiren eindrucksvoll, wie sie in den 60er Jahren den Zwängen der sexistischen Geschäftswelt zum Trotz ein IT-Unternehmen gründete, das Frauen besondere Chancen eröffnete und wie sie persönliche und berufliche Herausforderungen in etwas Gutes wandelte.
„Ein unmögliches Leben – Die außergewöhnliche Geschichte einer Frau, die die Regeln der Männer brach und ihren eigenen Weg ging“, geschrieben von Dame Stephanie Shirley mit Richard Askwith, erschien 2019 in Großbritannien und am 5. Oktober dieses Jahres auch in deutscher Sprache im Goldmann Verlag.
Karriere trotz oder wegen Sexismus
Stellt euch einen kleinen Zeitsprung vor: Ihr befindet euch in den 1960ern in London und seid eine hoch talentierte und ehrgeizige junge Mathematikerin mit einer Begeisterung für Computer. Doch die Tür zu einer großen Karriere an in der IT-Forschung wird euch von konservativen Männern eurem Arbeitsplatz verschlossen. Was würdet ihr tun?
Dame Stephanie Shirley setzte sich über die Rollenerwartungen an Frauen hinweg und ging ihren eigenen Weg. Sie erzählt in ihren Memoiren von ihrem außergewöhnlichen Lebensweg mit vielen Rückschlägen. 1963 gründete Shirley in Großbritannien an ihrem Wohnzimmertisch ihrer Zeit voraus ein Software-Unternehmen. Denn trotz ihrer Berufserfahrung und ihres abgeschlossenen Studiums bekam sie an ihrem vorigen Arbeitsplatz immer wieder Sexismus im Verhalten der Kollegen ihr gegenüber zu spüren. Zudem wurde ihr nicht nur einmal die Beförderung verweigert.
„Schließlich erfuhr ich, dass manche Männer eher die damit befasste Jury verlassen hätten, als meine Beförderung zu befürworten. Sie waren grundsätzlich dagegen, dass Frauen in Führungspositionen aufrückten.“ (Dame Stephanie Shirley in „Ein unmögliches Leben“)
Auch nach der Firmengründung musste Shirley als Frau besonders stark für den Erfolg ihres Unternehmens kämpfen. Als zu Beginn größere Aufträge ausblieben, unterschrieb sie mit „Steve“ und arbeitete jahrzehntelang hart an einem guten Firmenimage. Shirley selbst bezeichnet sich nicht als Feministin, doch sie schrieb zu Beginn der Firmengeschichte in einer Stellenanzeige auf der Suche nach weiteren Programmiererinnen „wunderbare Chance, allerdings nicht für Antifeministinnen“.
Arbeitgeberin für weibliche Talente
Also schuf Shirley zunächst für sich selbst ein passendes Arbeitsumfeld – und schließlich für viele weitere Frauen. Zwar ging sie nicht so weit, die Rollenerwartung an Frauen, Kinder großzuziehen, per se zu hinterfragen, doch sie wollte beides: Familie und eine Karriere. Das Besondere an ihrer Gründung von Freelance Programmers (später in FI umbenannt) war nicht nur, dass diese Branche noch nicht existierte. Auch beschäftigte Shirley überwiegend im Homeoffice arbeitende Programmiererinnen, die somit zugleich ihre Familie versorgen konnten. Man könnte kritisieren, dass der Erfolg von Shirleys Unternehmen auch eben durch den Sexismus in der (Geschäfts)welt bedingt war. Denn der Erfolg von FI profitierte nicht zuletzt von hochqualifizierten Programmiererinnen, die ihre vorige Arbeit für Haus und Familie oder aufgrund der Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt aufgegeben hatten. Und Shirley beschäftigte sie nicht als fest Angestellte sondern als Freelancerinnen. Dennoch gab Shirley vielen Frauen eine Chance in einer Zeit, in der diese ansonsten keine bis geringe Möglichkeiten gehabt hätten, Karriere und Familie unter einen Hut zu bringen. Umso irrwitziger war es, dass mit dem Gleichstellungsgesetz Shirleys Einstellungspolitik zunächst für illegal erklärt wurde, da es angeblich Männer diskriminierte. Dame Stephanie Shirley führte die später in FI umbenannte Firmengruppe erfolgreich und war eine ehrgeizige Unternehmerin – aber nicht um jeden Preis. Werte wie Fairness und Vertrauen waren ihr wichtig. So schaffte sie es nach einiger Zeit, das Unternehmen in Belegschaftseigentum zu überführen, da die Mitarbeiter*innen für sie das größte Kapital von FI waren und es somit auch auf dem Papier als ihr Unternehmen betrachten sollten.
Kraft aus persönlichen Herausforderungen
Dame Stephanie Shirley kam am 16. September 1930 als Vera Stephanie Buchthal in Dortmund als zweite Tochter einer wohlhabenden Familie zur Welt.
„Wenn alles nach Plan verlaufen wäre, wäre ich wohl nie aus dieser Welt der Annehmlichkeiten herausgekommen. Ich hätte einen anständigen, beruflich etablierten Mann geheiratet, die Kinder großgezogen und wohl nie einen richtigen Beruf erlernt“ (Dame Stephanie Shirley in „Ein unmögliches Leben“)
Shirleys Mutter war eine aus Österreich stammende Hausfrau, ihr Vater Deutscher und angesehener Richter. Mit Hitlers Machtergreifung standen der Familie aufgrund des jüdischen Glaubens von Shirleys Vater jedoch schwere Zeiten bevor. Nach vielen Umzügen in Europa schickten die Eltern ihre zwei Kinder in weiser Vorausahnung mit dem Kindertransport im Juli 1939 nach England in eine Pflegefamilie. Obwohl die Eltern später nachkamen, fand die Familie nie wieder ganz zusammen. Doch Shirley schaffte es, aus ihren vielen Rückschlägen die Triebkraft ihres Lebens zu gewinnen.
„Mindestens einmal ist es mir als Erwachsener passiert, dass ich versehentlich auf einem amtlichen Formular den Juli 1939 als mein Geburtsdatum angegeben habe: ein Fehler, der mir völlig unbewusst unterlief, dessen Erklärung jedoch auf der Hand lag.“ (Dame Stephanie Shirley in „Ein unmögliches Leben“)
Auch in späteren Jahren hatte Shirley mit familiären Herausforderungen zu tun – wie mit den langwierigen Bestrebungen gemeinsam mit ihrem Ehemann Derek, ihrem gemeinsamen Sohn Giles, der Autist mit einer geistigen Behinderung und stark verhaltensauffällig war, ein bestmögliches Leben zu bieten. Nicht zuletzt aufgrund persönlicher und familiärer Herausforderungen in ihrem Leben engagiert Shirley sich bis heute besonders für Menschen aus dem Autismus-Spektrum. Im Jahr 2001 wurde sie aufgrund ihrer Verdienste geadelt und zur Dame Commander des Order of the British Empire ernannt.
Dame Stephanie Shirleys Narration
Shirleys Memoiren Ein unmögliches Leben sind einfühlsam geschrieben und ermöglichen einen Einblick in Shirleys persönlichen und beruflichen Lebensweg. Außerdem erfahren Leser*innen einiges über die Entwicklung von Computern im Allgemeinen und der IT-Branche im Speziellen. Shirley schildert ihre Erfahrungen als Mutter eines autistischen Kindes. Und man erhält Eindrücke in eine Zeit großer Benachteiligung von Frauen in der Geschäftswelt und der Gesellschaft allgemein. Offen und unverblümt berichtet Shirley von ihren Lebensbereichen und -Abschnitten auf eine spannende sowie bereichernde Art und Weise. Eine klare Leseempfehlung für neugierige Menschen – nicht nur für Computerfans, Karrieremenschen oder Frauen.
Hannah Lüdert
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