Passend zum Urlauben, was die meisten von euch (hoffentlich) in irgendeiner Weise in den letzten Wochen getan haben, bespreche ich heute einen Roman im Rahmen der Reihe Feministische Mutterschaft. Wir haben unsere Elternzeit in Italien verbracht, wobei ich mehr (oder weniger) Zeit finden konnte, zu lesen. Der erste große Urlaub mit Kind… ihr kennt es. Und wenn nicht, lasse euch so viel gesagt sein: Es ist anders (schön)!!! Auch das heutige Buch ist anders, aber nicht weniger relevant.
Der Wahnsinn einer(?) Mutter
Die Mutter dieser Geschichte ist eine Schriftstellerin mit Schreibblockade, die aus Einsamkeit betrügt und eine merkwürdige Beziehung zu ihrem Stiefvater pflegt. Dabei kommt sie ohne Namen aus. Sie zerbricht an verschiedenen Idealen: Erfolgreich im Beruf zu sein, dem Habitus ihrer Familie zu entsprechen, eine funktionierende Paarbeziehung neben der Elternschaft zu führen sowie daran, die gesellschaftlich absurd hohen Erwartungen an eine Mutter zu erfüllen. Da all das ja völlig normale und erreichbare Ziele (Vorsicht Ironie!) sind, fragt sie sich immerzu, was denn falsch mit ihr sei und wieso sie diese Mehrfachbelastung dermaßen in die Knie zwingt. Als ihren Ausweg beschließt sie eine Psychiatrie aufzusuchen. Als Hilferuf. Dafür, dass ihr jemand hilft, sich zu sortieren und ihr eine klare Diagnose zu stellen. Verantwortung abgeben und irgendwie Hilfe bei einer Antwort auf die Frage, “was denn eigentlich los sei” zu bekommen:
Ich fand meine Idee, in die Psychiatrie zu fahren, sehr gut. Jemand würde mir sagen, was mit mir los war, dieser Arzt würde mir helfen, die Dinge zu sortieren (…) Ich würde dort sitzen und für Reihenfolgen nicht zuständig sein (…) Ich war ja nicht verrückt, es gab Gründe (18).
Mental Load – ein Genderklischee?
Ich ließ mich rücklings aufs Bett fallen und wiederholte flüsternd, was passieren musste, damit es weitergehen konnte: das Exposé, das Treffen, die Sendung, das Waschmittel, der Kontostand. Ich musste Siegfried erreichen und Alex sprechen. Um 6 muss ich Johnny aus der Musikschule abholen, dann das Abendessen (13).
Diese Stelle des Buches trieb mir Tränen in die Augen, weil es auch bei mir Tage gibt, an denen ich vor lauter Aufgaben fast durchzudrehen drohe. Und ganz egal wie viele dieser Erledigungen ich an einem Tag schaffe, es könnte immer noch mindestens eine mehr sein, damit man halbwegs zufrieden mit der eigenen Performanz als Mutter die Einschlafbegleitung “genießen” kann. Die Protagonistin des Romans spricht diese Aufgaben immer wieder zusammenhanglos vor sich hin, um sie nicht zu vergessen. Dem/Der Leser*in wird dabei fast schwindelig!
Mich erinnert dieser Schwerpunkt des Romans daran, dass ich manchmal daran verzweifle, die Tasche meines Kindes zu packen. Klingt banal, aber ja, wenn das auch noch auf Einkaufsliste kommt (Mist wir essen zu ungesund), Kleiderkreisel-Warensendungen (welche Größe trägt unser Kind gerade?), Snackboxen (wie lange sind wir wo unterwegs?), Wäscheberge (es fehlt noch Waschmittel für die Wolle-Seide-Bodys) und unbeantwortete Whatsapp-Nachrichten (ich wollte Bescheid geben, wenn absehbar ist, wann das Kind ausgeschlafen und bereit für ein Treffen ist), ist mir das simple Einpacken einer Windel, der Feuchttücher, der Sonnencreme, des Sonnenhuts, des beliebtesten Spielzeugs, etwas Obst, Wasser, eines Wechselbodys, einer Jacke (Moment, wie wird das Wetter? Ich checke kurz die App) und und und komischerweise zu viel!!!!
Was ich mich dabei frage, weil es auch der Roman so schildert ist, ob und warum diese mentale Belastung so so oft allein an den Müttern haftet.
Krieg und Patriarchat als Kollektives Gedächtnis
Neben der Elternschaft, dem Betrug sowie dem Alltagswahnsinn, behandelt die Autorin ein weiteres Thema ganz geschickt: die Generationen nach dem Krieg. So spielt neben dem Stiefvater Siegfried, der das moderne Patriarchat mit all seinem Reichtum, Abgeklärtheit und toxischer Männlichkeit verkörpert, auch die trinkende, leicht grausame Großmutter der Protagonistin eine Rolle. Die Hauptfigur wächst mit einer Erziehung voller Härte auf und schildert Wochenend-Besuche bei ihrer Oma voller Leistungsdruck, Ordnung und emotionaler Machtspielchen.
Spannend hierbei, dass sich die Protagonistin als Erwachsene dagegen zu wehren versucht und das damalige Verhalten verurteilt. Sich ganz von dieser Sozialisierung frei machen, kann sie jedoch nicht und versucht absurderweise immer noch, ihrem Stiefvater zu gefallen “Ich war mir sicher, dass Siegfried den Stil des Kleides mochte” (170).
Sie schämt sich sogar für ihren Partner Alex, als Siegfried nachfragt, was “der eigentlich den ganzen Tag so mache”(169). Obwohl sie es eigentlich bevorzugt, dass ihr Partner als Vater für die gemeinsame Tochter präsent ist, als einen 9-to-5 Job zu haben und viel Geld nach Hause zu bringen:
Ich wollte sagen: Johnny sieht Alex viel häufiger als ich dich damals, er holt sie mindestens jeden zweiten Tag vom Kindergarten ab, geht mit ihr zum Turnen, bastelt Drachen, weiß wie ihre Freunde heißen und an welcher Stelle wir gerade im Buch sind. Aber ich schwieg und zuckte mit den Schultern.(170)
Die charismatische Stärke, dies zu erklären, hat sie jedoch nicht und wird in den Gesprächen mit ihrem Stiefvater immer wieder das kleine Kind, das zugleich Dankbarkeit und tiefe Abscheu für ihn empfindet.
Klare Leseempfehlung und was mich nachdenklich stimmt
Trotz der gewissen Schwere, die der Roman transportiert, möchte ich ihn unbedingt empfehlen zu lesen! Die verschiedenen Zeitebenen machen ihn ungeheuer spannend und lesenswert. Bis zum Ende füllen sich einige Leerstellen nicht, was die Alltäglichkeit des Settings und der Situation des Elternpaares unterstreicht.
Die Psychiatrie als vermeintlicher Ausweg aus all dem Mental Load und der Verantwortung verschiedenster Lebensbereiche wirkt zunächst drastisch. Dennoch kenne ich dieses Gefühl ebenfalls aus den Situationen, wo man wieder alles gegeben hat und das Gefühl hat, dass es trotzdem nicht ausreicht. Wenn niemand kommt, um zu “retten”. Die klassische Überforderung im Mama-/Familien-Alltag aufgrund von Mehrfachbelastungen und Geringschätzung dessen, was man eigentlich alles allein leistet.
“Ich dreh durch”, “ich werde wahnsinnig”, “ich kann nicht mehr”, “wann kommt jemand, der mir erklärt, warum ich so überfordert bin” – alles Sätze, die ich schon aus Muttermündern gehört habe!!! Und natürlich ist es eine Überspitzung, hierbei tatsächlich über eine Einweisung in die Psychiartrie nachzudenken. Schuld an diesen Gefühlen ist das zutiefst romantisierte Bild von Mutterschaft. Es führt dazu, dass man an sich zweifelt, wenn es eben nicht nur schön und unglaublich erfüllend ist, Mutter zu sein. Sondern wenn man eben überfordert und erschöpft von all den Aufgaben ist, die die Care-Arbeit so mit sich bringt.
DAS IST NORMAL UND DARF DURCHAUS WAHNSINNIG MACHEN!!!
Lain
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