Es ist ein sonniger Maiabend im Künstlerdorf Worpswede. Vor dem Eingang der Music Hall tummelt es sich mäßig. Kleine Gruppen älterer Frauen stehen plaudernd neben mittelalten Paaren und einer Studierendengruppe. Doch der Anteil an jungen Leuten ist anlässlich des Events verhältnismäßig klein.
Ein bisschen erwartungsvoll wird schon geredet. Pussy Riot sei der Name der Gruppe, die heute Abend in der Music Hall spielen soll. Mal sehen, wie sorglos die Stimmung der Worpsweder Leute nach dem Abend sein wird. Denn bei Pussy Riot handelt es sich nicht um ein nettes Jazzkonzert, sondern um rebellischen Punk-Aktivismus.
Wer verbirgt sich hinter den bunten Strumpfmasken?
Seit 2012 sind sie international bekannt – Pussy Riot. Ein Kollektiv aus zehn bis 15 russischen Frauen, immer feministisch, immer aktivistisch. Ihr Markenzeichen sind ihre bunten Sturmmasken. Pussy Riot zählt sich zur Riot-Grrl-Bewegung, einer feministischen Strömung, entsprungen in den 1990er Jahren. Sie sind Punk-Band und aktivistische Gruppe zugleich.
Leaderin der Gruppe ist Maria Aljochina, genannt „Masha“. Sie saß zuletzt wegen eines Instagram-Posts im russischen Hausarrest. Ihr wurde ein weiteres halbes Jahr Hausarrest zugeteilt. Dem konnte sie tatsächlich entkommen, da es ihr gelang nach Deutschland zu fliehen. Sie schaffte es, mithilfe von Freund*innen, als Essenslieferantin verkleidet. Ein Bild von ihr in grüner Lieferdienst-Kleidung ging in den Medien viral.
Nun ist die Gruppe mit Riot Days weltweit auf Antikriegstour. Den Großteil der Einnahmen der Konzerte spendet Pussy Riot an ein Kinderkrankenhaus in Kiew. Riot Days erzählt die Geschichte von Pussy Riots Gründung bis heute. Die Performance basiert auf dem gleichnamigen Buch, das Aljochina veröffentlichte.
Ein lila leuchtendes Setting aus Film, Musik und Tanz
Das Konzert geht los. Rhythmische, spannungsvolle Geigenmusik erklingt im Saal. Zu sehen ist zunächst nur eine der Künstlerinnen. Sie steht Geige spielend, im punkigen Minirock-Outfit am Rand der Bühne. Die Spannung im Publikum ist enorm, der Rest der Crew wird gebannt erwartet.
Als die Musikerinnen vollzählig sind, ist die Stimmung aufgeladen, der Raum bebt. Sie stehen nebeneinander an Mikros und verschiedenen Instrumenten: Schlagzeug, Keyboard, Geige. Maria Aljochina und Olga Borisova befinden sich als Hauptsprecherinnen/Sängerinnen in der Mitte der Gruppe.
Im Hintergrund befindet sich eine Leinwand mit Videoaufnahmen. Pussy Riot spricht und singt auf Russisch, doch auf der Leinwand wird die deutsche Übersetzung zeitgleich eingeblendet wie Untertitel bei einem Film.
Wie alles anfing bis zum Arbeitslager
Riot Days beginnt mit der Aktion, die Pussy Riot weltberühmt macht – das „Punk-Gebet“ in der russisch-orthodoxen Kirche in Moskau. Es ist Februar 2012 und drei junge Aktivistinnen stürmen vor den Altar der Moskauer Kathedrale. Sie flehen Gott an, Russland von Putin zu erlösen. Zwei der Künstlerinnen, die damals dabei waren, stehen auch heute auf der Bühne: Maria Aljochina und Diana Burkot.
Die Aktion geht letztendlich nur 40 Sekunden, doch Russland verbannt die damals Anfang 20-jährigen Frauen zu zwei Jahren Freiheitsstrafe. Der Westen hingegen feiert die jungen Aktivistinnen für ihren Mut.
Riot Days nimmt die Zuschauer*innen musikalisch und filmisch mit zu der darauf folgenden Hetzjagd: über die Inhaftierung, den Prozess bis zum Arbeitslager. Besonders steht Aljochinas Kampf gegen die Erniedrigungsstrukturen der Strafkolonie Nr. 28 von Beresniki im Fokus. Riot Days zeigt auch den Hungerstreik, in den Maria Aljochina und ihre Mitstreiterin Nadeschda Tolokonnikowa zeitweise gehen. Dies tun sie, um gegen die willkürlichen Strafen und üblen Bedingungen in den russischen Gulag-ähnlichen Arbeitslagern zu demonstrieren.
Kämpfen gegen Putin
Es zieht sich eine provokant-aufgeladen rockig-punkige Stimmung durch das Stück. Ausgelassene Schreie, wilde Tänze und Sprünge wechseln sich ab.
In ihren Texten drücken sich die Künstlerinnen entschieden gegen Putin, die Kirche und den Krieg in der Ukraine aus. Sie singen unter anderem „Aufstand in Russland – Charisma des Protests, Aufstand in Russland – Putin pisst sich ein“.
Die Power der Künstlerinnen ist unglaublich. Die Zuschauer*innen in den ersten Reihen tanzen mit.
Als das Stück bei der Zeit im Arbeitslager ankommt, ist es auf einmal still auf der Bühne. Keine Schlagzeugmusik mehr, kein lautes Geschreie mehr, nur Klavier- und Flötenmusik. Die Leinwand zeigt Schreckensszenen während die Musikerinnen hintereinander mit gesenktem Kopf über die Bühne gehen.
Wasserklatsche mitten ins Gesicht
Nach einer vermeintlichen Trinkpause der Band kommt es ohne Vorwarnung zum markantesten Moment des Konzerts: eine Wasserdusche mitten ins Publikum. Borisova geht immer wieder mit einer neuen Wasserflasche an den Bühnenrand und leert den Inhalt über den Reihen. Währenddessen übergießt Aljochina sich selbst, mit dem Rücken zum Publikum stehend.
Dies ist die provokative Performancekunst, die man von Pussy Riot kennt. Die Wasserdusche könnte als „Aufruf zum Aufwachen“ ans Publikum interpretiert werden. Dass wir endlich verstehen sollen, was in Russland und der Ukraine passiert.
Keine Show, sondern Lebensrealität
Ganz am Ende, nach dem Applaus spricht Aljochina noch einmal direkt zum Publikum. Sie betont, dass dieser Auftritt keine Show war, sondern ihre Lebensgeschichte. Sie ruft dazu auf, dass wir nicht vergessen dürfen, dass unser Leben im sicheren Deutschland nicht selbstverständlich sei. Ein Krieg könne überall ausbrechen, in jedem Land, zu jeder Zeit. Sie sagt zudem, dass sie und andere Aktivist*innen schon lange vor Ausbruch des Krieges immer wieder auf den kritischen Russland-Ukraine-Konflikt aufmerksam gemacht hätten. Der Krieg hätte verhindert werden können, doch der Westen wollte nicht zuhören.
Mich begleitet unmittelbar nach dem Konzert ein kurzer Moment der Angst. Ein flaues Gefühl, das mich auf den Boden der Realität zurückholt. Sicherlich geht es vielen Zuschauenden so.
Letztendlich macht sich das Worpsweder Publikum wieder auf den Weg nach Hause, während Pussy Riot täglich weiterkämpft. Wie viel die Zuschauenden aus dem Abend mitnehmen, bleibt wohl jeder Person selbst überlassen. Eindruck hat das Konzert aber auf jeden Fall hinterlassen.
Ella B.
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