Um halb zwei öffne ich die Tür vom Radieschen. Zwei Tische sind besetzt. An einem mit einer Häkeldecke geschmückten Tisch sitzt ein älterer Mann, der gerade die vegetarische Bolognese vom Mittagstisch verputzt. An dem anderen Tisch sitzen zwei Frauen, vielleicht Mutter und Tochter. Auf ihrem Tisch steht eine bunt verzierte Tasse, aus dem der heiße Kaffee dampft. Die Kellnerin begrüßt mich und auch die Gäst*innen nicken mir freundlich zu.
Ich frage die Kellnerin nach Eva Radieschen, mit der ich verabredet bin. Wir klopfen an die Tür, auf der „Backstube“ steht. Kurze Zeit später, nachdem ich die vor mir stehenden Torten und Kuchen bewundert habe, öffnet Eva Radieschen die Tür in einer grünen Spitzenschürze.
„Ich bin sofort bei dir“
Wir bestellen uns ein Getränk und ich erfahre, dass gerade ein veganer Spekulatius-Mandarinen-Kuchen in Arbeit ist. Von unserem Platz aus, kann ich durch das Fenster die Kapelle des Friedhofs sehen. Eva erzählt, dass das Radieschen aus der ehemaligen Friedhofsgärtnerei entstanden ist. Der lange Tisch, an dem wir sitzen, ist eine Anrichte, auf der früher die Blumenkränze für die Trauerfeiern gesteckt wurden.
Aber zum Anfang
Das Radieschen mit dem Zusatztitel „Kaffee und Erinnerungen“ ist mittlerweile 10 Jahre alt und begann mit einer Zwischennutzung durch die Schwankhalle und Eva, die vorher als Kulturmanagerin in der Schwankhalle arbeitete. Das Gebäude der Friedhofsgärtnerei stand schon länger leer und die Stadt Bremen wollte wieder mehr Leben ins das leerstehende Gebäude bringen.
„Die Stadt Bremen hatte ein ganz großes Anliegen daran, dass hier etwas passiert. Vor zehn Jahren war die Neustadt noch nicht so belebt wie heute“
Gemeinsam mit der Schwankhalle startete das Radieschen 2011 in das erste Jahr.
„Als ich den Raum gesehen habe, wusste ich direkt was damit anzufangen.“
Von Anfang an war wichtig, dass die Nutzung des Gebäudes inhaltlich mit dem Friedhof zusammenpasst, schließlich gehört die ehemalige Gärtnerei zur Friedhofskapelle und damit auch zum Friedhof. Das kam für Eva Radieschen wie gerufen.
„Ein normales Café hätte ich nicht so reizvoll gefunden, ich möchte Menschen auch anregen. Das Thema Tod ist bei so vielen immer noch ein Tabuthema obwohl es uns alle betrifft.“
Eva erzählt mir, dass sie immer schon in der Gastronomie gejobbt hat, weil das Geld in der Kulturbranche sehr bescheiden ist. Der Traum vom eigenen Café kam aber erst mit dem Projekt der Zwischennutzung der Friedhofsgärtnerei.
„Für mich war das ein Experiment, ich habe in meinem vorherigen Job immer auch zu Ende gedacht. Projekte angefangen und abgeschlossen. Deshalb war das hier auch erstmal nur für ein Jahr gedacht.“
Aber es lief weiter, die Zwischennutzung wurde ganze vier Jahre verlängert. Danach bot die Stadt Bremen Eva mit dem Radieschen eine Verstetigung an. Die erste Verstetigung in Bremen wohlgemerkt. Zehn Jahre später hat Eva Radieschen noch immer nicht genug.
„Ich verorte mich ja auch ganz klar mit dem Friedhof, deshalb auch der Name Radieschen – Kaffee und Erinnerungen.“
Kaffee und Erinnerungen
Das Radieschen soll also zum Erinnern anregen, das betont Eva auch mehrmals während unseres Gesprächs. Die Atmosphäre des Erinnerns wird durch Sammeltassen, Häkeldeckchen und die deftigen Gerichte auf der Mittagskarte belebt. Klingt auf den ersten Blick vielleicht etwas altmodisch, ist aber mit einer unglaublichen Liebe zum Detail gemacht und heißt alle Menschen von Jung bis Alt willkommen.
„Meine Gäste sehen die Häkeldecken und sagen: Ach ja, Häkeln, das könnte ich auch mal wieder machen.“
Gebacken hat Eva Radieschen schon immer gerne, viel mit ihrer Mutter, aber auch viel alleine. Als Bettlektüre, erzählt Eva mir, blättert sie gerne in alten Koch- und Backbüchern, einige Klassiker stehen im Radieschen. Auf der einen Seite möchte Eva, dass die Gerichte zum Erinnern anregen. Auf der anderen Seite ist Eva die Verantwortung gegenüber der Umwelt wichtig, alles im Radieschen ist vegetarisch und fair gehandelt.
„Ich finde es wichtig, in die Zukunft zu gucken und damit verantwortungsvoll umzugehen. Ich hab zum Beispiel keine Coca Cola. Früher habe ich mich dafür gerechtfertigt, heute stelle ich einfach eine BioZisch Cola auf den Tisch und warte auf die Reaktion der Kund*innen.“
Im Radieschen gibt es fair gehandelten Kaffee, Bio-Milch und Bio-Eier und viele vegane Optionen. Wer einen Kaffee-to-go bestellt, bekommt den Kaffee in einem Schraubglas und so findet sich neben den alten Kochbüchern auch mal ein Missy-Magazine wieder. Eva verbindet Altes mit Neuem und das kommt an.
„Die Menschen suchen sich einen Kuchen aus, der lecker aussieht, da erzähle ich vielleicht mal im Nachhinein, dass da keine Eier und keine Butter drin waren. Die älteren Leute sagen dann: Was? Das kann doch gar nicht sein. Den Leuten fehlt es überhaupt nicht.“
„Im besten Fall interessiert es gar nicht, ob die Bolognese vegan ist.“
Neben fair gehandeltem Kaffee und guten Produkten möchte Eva mit dem Radieschen am Friedhof noch einen weiteren Punkt erreichen:
„Ich will, dass Leute herkommen, weil der Kaffee gut ist. Sie sollen den Mittagstisch genießen und Kuchen essen, viel mehr möchte ich aber, dass Leute ins Gespräch kommen. Dass sich Leute erinnern und Gedanken machen auch über den eigenen Tod. Das passiert ganz oft. Wenn ich dann den Kaffee zum Tisch bringe und ich höre, dass sich Menschen darüber unterhalten, ist das genau das, was ich möchte. Ich wollte natürlich auch kein Trauercafé. Ich will Menschen nichts vorsagen, aber sie sollen anfangen, über dieses Thema zu sprechen, da kommt dann meine Kulturmanagerin noch aus mir hervor.“
Das Tabuthema Tod
Schon mit der Namensauswahl des Cafés wollte unsere FLINTA* der Woche die Verbindung zum Friedhof herstellen. Aber was haben Radieschen mit Friedhöfen und dem Tod zu tun? Ein altes Sprichwort schafft Klarheit.
„Auf dem Friedhof kann man ja bekanntlich die Radieschen von unten sehen.“
Eva wusste zunächst nicht, wie die Bremer*innen mit dem Namen umgehen, ob sie das Sprichwort kennen und ob die Verniedlichung des Todes vielleicht zu ernst genommen wird.
„Mir war es wichtig, dass ich keine*n verletzte, dass es nicht pietätslos ist. Aber die Bremer*innen haben das total gut aufgenommen. Trauer und Humor sind sowieso dicht beieinander, es ist wichtig einen Weg zu finden, mit der Trauer umzugehen.“
Im Radieschen gibt es Kinderbücher über den Tod. Eine Hörbar mit Radiosendungen und Interviews vom Totensonntag und viele Kleinigkeiten, die an die Großeltern und an Früher erinnern. Eva Radieschen möchte Menschen dazu anregen, mit dem Tod ins Gestalten zu kommen. Sie möchte, dass der Tod nicht allein den Kirchen gehört, nur weil kein Mensch über den Tod spricht. Bestattungsfirmen können Unmengen an Geld verlangen, weil es von den meisten Kund*innen einfach hingenommen wird.
„Es ist doch viel schöner, wenn die Person auf die eigene Art und Weise in Erinnerung bleibt.“
Eva erzählt mir von ihren Stammgäst*innen. Noch bis vor kurzem besuchte eine Gruppe „älterer Ladys“ aus dem Pflegeheim neben der Schwankhalle regelmäßig das Radieschen. Eva nennt sie liebevoll die „Gossip Girls“. Im Radieschen wurde dann immer ausgiebig gequatscht, Kaffee getrunken und Kuchen gegessen. Drei von ihnen sind mittlerweile verstorben, jede wollte die Trauerfeier im Radieschen machen.
„Wir haben dann einfach für sie mit gedeckt, als wäre sie dabei.“
„Es ist eine Ehre für mich, wenn Gäste von mir, hier im Radieschen ihre Trauerfeier machen möchten.“
Was kommt als Nächstes?
Eva liebt Projekte, damit ihr nicht langweilig wird sucht sie sich immer Neues. Gerne würde Eva ein Kochbuch herausbringen, natürlich mit Rezepten, die zum Erinnern anregen. Sie ist auf der Suche nach einem Verlag, der ihr hilft, die vielen Rezepte festzuhalten.
„Geschichten, Bilder und Rezepte könnte ich beisteuern“
Natürlich alles vegetarisch. Eva probiert von Hühnerfrikassee über Königsbergerklopse alles aus. Manchmal braucht es eine Weile, bis die vegetarischen Rezepte so schmecken, wie in Evas Erinnerung. Indem sie im Radieschen auf Fisch und Fleisch verzichtet, kann sie am nachhaltigsten sein.
„Ich glaube nicht, dass Fisch und Fleisch die Zukunft ist. Ich glaube auch nicht, dass die Zukunft vegan sein wird, aber Gemüse ist immer schon zu kurz gekommen, deshalb inspiriert mich auch Sophie Hoffmann“
Eigentlich möchte Eva auch gerne eine vegetarische Kochausbildung anfangen. Das scheiterte bis jetzt jedoch immer, weil die meisten Ausbildungen sehr fisch- und fleischlastig sind.
Eine Sache liegt Eva besonders am Herzen. Obwohl das Radieschen so nachhaltig wie möglich gestaltet ist, darf Eva aber nicht mit biologischem Anbau werben. „Bio-Milch“ darf nicht in ihrer Speisekarte stehen, wobei das vielen Gäst*innen wichtig ist. Alles nur, weil das Radieschen nicht Bio-zertifiziert ist. Natürlich kostet das Bio-Zertifikat Geld, das 20 Jahre alt ist und seitdem nicht geändert wurde. Dadurch müsste alles im Radieschen teurer werden.
„Ich möchte im Herbst aber keine Bio-Äpfel aus Chile kaufen, wenn ich Äpfel aus der Region beziehen kann. Das macht für mich keinen Sinn.“
Es ist wichtig, dass Gastronom*innen sagen dürfen, was für Produkte sie anbieten, sonst ist es auch für die Gäst*innen intransparent. Eva möchte das ändern, vielleicht indem sich mehrere Menschen aus der Gastronomie zusammen tun und versuchen, dagegen vorzugehen.
Was hilft dabei, Träume zu verwirklichen?
Als ich diese Frage stelle, kommt Eva direkt der Lieblingssatz ihrer Mutter in den Sinn:
„Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“
Die Devise ist also: Einfach mal machen. Eva sagt, bei vielen bleibe es beim Traum. Viele haben Angst zu scheitern.
„Man muss auch Bock darauf haben, dass sowas scheitern kann. Es war von Anfang an ein Experiment, Experimente implizieren auch immer die Möglichkeit des Scheiterns. Das sollten wir gesellschaftlich sowieso mal ein bisschen üben, dass man auch scheitern kann, dass es nicht schlimm ist, Sachen wieder zu schließen.“
Vielleicht hat Eva das auch aus ihrer Zeit als Kulturmanagerin gelernt. Auch die Geldfrage steht nicht an erster Stelle, das darf sie auch nicht. Eva hat noch nie ihren Stundenlohn ausgerechnet, sie will es gar nicht. Geld ist nicht der Motor in Evas Leben.
Ich habe Eva Radieschen als direkte und humorvolle Person kennengelernt. Eva weiß, was sie will und das setzt sie um. Für mich waren der Tod und veganer Kuchen zunächst etwas total Gegensätzliches. Sie sind es vielleicht auch immer noch, aber mir gefällt die Verbindung, die Eva mit dem Radieschen dazwischen herstellt. Ich komme wieder, mit Freund*innen, meiner Oma oder meinen Papa, weil ich weiß, dass sich alle wohlfühlen werden und keine*r mit leerem Magen nach Hause gehen wird.
Lilli
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