Es gibt eine Krise in den Wissenschaften. Sie betrifft die psychische Gesundheit von Wissenschaftler*innen und ist wieder einmal auf das extrem wettbewerbsorientierte System der Naturwissenschaften zurückzuführen. Gerade bei Doktorand*innen ist die Lage prekär, doch es wird bei steigender Karrierestufe nicht unbedingt besser. Wie eine Doktorandin der Harvard Universität beschreibt, leiden Studierende im Aufbaustudium der Naturwissenschaften „sechsmal häufiger an Depressionen und Angstzuständen als die allgemeine Bevölkerung” (Übersetzung d.A).
Depressionen betreffen demnach mehr als 40 Prozent der MINT-Student*innen (mit Abschlüssen in Naturwissenschaften, Technologie, Ingenieurwissenschaften und Mathematik), während 50 Prozent von ihnen unter hohem Stress leiden. Durch die Corona-Pandemie und einen Wegbruch der üblichen unterstützenden Netzwerke sind beide Zahlen um noch einmal mehr als 10 Prozent gestiegen.
Das betrifft erst einmal alle
Wie Katie Reagin erklärt, betrifft der Druck in den Naturwissenschaften erstmal alle Beteiligten:
„Da die MINT-Felder schnell wachsen, möchten Wissenschaftler*innen ihre Ergebnisse schnell veröffentlichen, bevor jemand anderes die gleiche Entdeckung macht. Dieser Wettbewerb, zusammen mit dem Druck von akademischen Einrichtungen, Aufsätze zu veröffentlichen und Stipendien zu erhalten, wird oft vom PI [Principal Investigator] an die Doktorand*innen im Labor weitergegeben. Vielleicht hält der Wettbewerbscharakter der akademischen Welt die Vorstellung aufrecht, dass Stress und Angst mit Hingabe und Produktivität gleichzusetzen sind. Dieser Leistungsdruck führt zu einem erhöhten Stresslevel, der sich letztendlich als Burnout bei den Studierenden manifestiert.“ (Übersetzung d.A.)
Der Druck, möglichst schnell zu publizieren, bevor einem jemand anders zuvor kommt, ist bekannt als „publish or perish“-Prinzip – publizier oder stirb. Mehr zu dem Wettbewerbsgedanken in den Naturwissenschaften kann in diesem Artikel aus der Reihe nachgelesen werden. Wie Katie Reagin erklärt, ist Burnout einer der Gründe, warum viele Studierende die Naturwissenschaften letztendlich verlassen – auch wenn sie es noch weit hätten bringen können. Die Doktorandin Wei Li bestätigt ebenfalls, dass der konstante Wettbewerb zu Depressionen, Angst und Stress für alle führt – gerade weil viel von der Finanzierung abhängt, und diese in den letzten Jahren stagniert ist, während es immer mehr Anträge auf begrenzte Mittel gibt. Damit sinken die Erfolgschancen beträchtlich, wie die folgende Grafik illustriert:
Nicht nur die Finanzierung von Forschungsprojekten, sondern auch der eigene Lebensunterhalt und die berufliche Zukunft sind in den Naturwissenschaften oft unsicher. Dazu kommen Stress und geringerer sozialer Zusammenhalt durch den Wettbewerb und nun auch noch Isolation und allgemeine Arbeitslosigkeit durch die Pandemie. Ist es da wirklich verwunderlich, dass die psychische Belastung steigt?
Es trifft wieder einmal vor allem Frauen
Wie Epperson et al. beschreiben, trifft die psychische Belastung während der Corona Pandemie vor allem Frauen in den Naturwissenschaften verstärkt:
„Die Pandemie hat viele der seit langem bestehenden Faktoren verschärft, die in den MINT-Berufen zu einem stärkeren Burnout bei Frauen im Vergleich zu Männern beitragen. Vor der Pandemie berichten Frauen in MINT von größerer emotionaler Erschöpfung, [Burnout], größerem Zynismus und geringerer akademischer Effizienz […]“ (Übersetzung d.A.)
Zu der geringeren Effizienz und steigenden Belastung tragen die privaten Verantwortungen der Kinderversorgung und Pflege von Angehörigen bei. Arbeitgeber*innen, die diese Frauen nicht auch noch zusätzlich belasten wollen, fragen gar nicht erst nach, ob nicht noch ein neues Projekt machbar wäre – womit Naturwissenschaftlerinnen auch noch neue berufliche Chancen entgehen. „Frauen, die mit mehr häuslichen Pflichten jonglieren, erleben eine höhere kognitive Gesamtbelastung, was sie einem höheren Burnout-Risiko aussetzt“, bestätigen Epperson et al.
Zu den Nebenwirkungen zählen neben Burnout und Schlafstörungen auch Appetitlosigkeit, verschlechterte Beziehungen, und ein Mangel an Motivation und Kreativität. Verstärkt werden diese, wenn man nicht nur eine Frau mit einem MINT-Beruf ist, sondern auch noch einer ethnischen oder sexuellen Minderheit angehört (vgl. Epperson et al). Gute Voraussetzungen zum wissenschaftlichen Arbeiten sind das nicht.
Gehöre ich hier überhaupt hin?
Gerade das Gefühl, als Frau nicht in die Naturwissenschaften zu gehören, kann zusätzlichen Stress verursachen. Wie Jennifer Drake feststellt, bleibt es nun einmal dabei, dass MINT-Berufe männlich dominiert sind und man(n) immer noch leicht überrascht ist, dort doch mal eine Frau anzutreffen:
„Das große Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern führt dazu, dass sich Frauen in der Schule und am Arbeitsplatz natürlich als Außenseiter fühlen. Diese Situation ist oft unangenehm und geistig anspruchsvoll, wenn auch nur das Erscheinen und Erledigen Ihrer Arbeit mit ständigem sozialem Stress und Angst einhergeht. Ironischerweise halten die Schwierigkeiten, denen sie (wir) begegnen, oft die nächste Generation von Frauen davon ab, sich uns anzuschließen.“ (Übersetzung d.A.)
Wenn auch nur unterschwellig, ist der Stress sich in einer feindlichen Umgebung zu befinden, für Frauen in MINT-Berufen oft konstant vorhanden. Dies führt zu einer genetisch programmierten Reaktion – Kampf oder Flucht. Dieser Notfallmodus sollte eigentlich nur eine kurze Zeit andauern – zum Beispiel, bis man erfolgreich vor dem Löwen weggelaufen ist. Wenn er jedoch zum Teil des Alltags wird, hat das weitreichende und gesundheitsschädliche Konsequenzen:
„Wiederholte und langfristige Freisetzungen des Stresshormons Cortisol verursachen Veränderungen in der Gehirnstruktur, die Menschen anfälliger für Angstzustände und Stimmungsstörungen, einschließlich Depressionen, machen. Bei Langzeitstress schrumpft die Gehirnstruktur, der Hippocampus, und beeinträchtigt das Kurzzeitgedächtnis und die Lernfähigkeit.“ (Jennifer Drake, Übersetzung d.A.)
Vielen Frauen ist nicht ganz klar, worauf sie sich da einlassen, wenn sie eine MINT-Karriere beginnen. Wenn man sie jetzt fragt, wie es ihnen geht, ist laut Preethi Karpoor die Antwort – mit oder ohne Pandemie – immer die gleiche: „ich bin gestresst“.
Neben der genannten psychischen Belastung kommt nun auch noch das berühmt-berüchtigte Impostor-Syndrom dazu – der eigene Zweifel, ob man wirklich so schlau ist, wie es von einem*r angenommen wird. Die Antwort ist, dass Frauen durchaus schlau genug für eine MINT-Karriere sind – aber dass allgemein der Stress reduziert werden muss, zusammen mit dem immerwährenden Wettbewerb. Zudem wird dafür plädiert, psychische Belastung zu entstigmatisieren – das Gehirn ist schließlich auch nur ein Organ.
Cora Övermann
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