Inhaltswarnung: in diesem Text geht es um sexuelle Belästigung
Irgendwo in der Antarktis wurde im Jahre 1994 ein Gletscher nach dem Geologen David R. Marchant benannt. Im September 2018 wurde ebendieser Gletscher wieder umbenannt – Grund dafür war das Verfahren gegen Marchant aufgrund sexueller Belästigung.
Marchant hatte zuvor regelmäßig Wissenschaftlerinnen auf seinen Expeditionen erniedrigt, beleidigt, belästigt, und auch körperlich verletzt. Gerade Frauen in den Naturwissenschaften sind von sexueller Belästigung betroffen – nicht nur weil die Naturwissenschaften männlich dominiert sind und Frauen dort angeblich nichts zu suchen haben, sondern auch, weil durch das hierarchische System viele Abhängigkeiten entstehen.
Das Problem
Es ist eins dieser Themen, von denen man durchaus weiß, dass sie existieren, über die aber nicht oft genug gesprochen wird. Laut einer Studie der National Academies aus dem Jahr 2018 sind erschlagende 75 Prozent aller Physikstudentinnen von sexueller Belästigung betroffen. Eine weitere Studie der Bostoner Firma ITIC (Information Technology Intelligence Corp.), an der weltweit 1,100 Frauen in MINT-Berufen teilnahmen, fand ähnlich hohe Zahlen – und einen weitreichenden Mangel an Konsequenzen für die Täter*innen. Tatsächlich sind diese zwar überwiegend männlich, und das laut Angaben der Teilnehmerinnen zu 87 Prozent – allerdings gaben 6 Prozent der Befragten an, von Frauen belästigt worden zu sein, während 7 Prozent sowohl unter Männern als auch Frauen litten.
Die höchste und vielleicht erschreckendste Prozentzahl der Studie ist allerdings 91 – das ist der Anteil von Betroffenen, welche entweder keine Maßnahme ergriffen (40 Prozent) oder nur ihren Freund*innen oder Kolleg*innen von dem Vorfall erzählten (51 Prozent). Es überrascht wohl kaum, dass knapp ein Viertel (23 Prozent) der Betroffenen ihre Firma und/oder die Wissenschaften insgesamt verließen. Aber auch wenn die Zahlen gravierend sind, spiegeln sie nicht die Erfahrungen der Betroffenen wieder. In der Umfrage wurden die weiblichen MINT-Fachkräfte daher gebeten, die spezifischen Arten von sexueller Belästigung aufzuzählen, die sie erlebt hatten:
„Die Antworten umfassten verbale Belästigungen wie unanständige Witze, grobe Sprache, unangemessene Kommentare zum Aussehen einer Frau oder aufdringliche Fragen zum Privatleben. Solche Belästigungen können den Druck zum Sex im Austausch für Gehaltserhöhungen und Beförderungen umfassen und können zu direkten körperlichen Übergriffen führen, die Küssen, Befummeln und versuchten Geschlechtsverkehr beinhalten.“
(Layra DiDio, Übersetzung d.A.)
Einige Frauen in den Naturwissenschaften scheinen inzwischen zu dem Schluss gekommen zu sein, dass sexuelle Belästigung einfach ein Teil des Arbeitslebens ist. So werden kleine Vorkommnisse abgewunken, während nur noch extreme Fälle im Gedächtnis bleiben, wie eine Teilnehmerin der Umfrage berichtet:
„Ich habe im Laufe meiner Karriere mehrere Fälle erlebt, aber das Schlimmste ereignete sich, als ich 24 war, und ein 75-jähriges Familienmitglied der Firmeninhaber drückte mich an eine Wand, schob mir seine Zunge in den Hals und begrapschte mich. Die Inhaber haben mir nicht geglaubt, als ich es ihnen erzählte, und ich verließ die Firma bald.“ (Übersetzung d.A.)
Unglaubwürdigkeit ist, wie dieses Beispiel zeigt, immer noch ein großes Problem. Allerdings gibt es durchaus auch Fälle, wo den Betroffenen zwar geglaubt wird, aber dennoch kein Verfahren folgt, weil man große Kunden nicht verlieren möchte. Doch nicht nur Feiern mit übergriffigen Familienmitgliedern können eine Gefahr darstellen.
Eine gefährliche Umgebung
Wie Joan Williams und Kate Massinger berichten, können vor allem Forschungsexpeditionen und Sommerkurse eine gefährliche Umgebung für Wissenschaftlerinnen sein – vor allem, weil sie teils notwendig sind, um sich beruflich weiter zu entwickeln. Eine Teilnehmerin der Studie klagte, dass sexuelle Belästigung genau dann passiert, wenn man sich endlich als anerkannte Wissenschaftlerin und „Teil der Gang“ fühlt (Übersetzung d.A.). Auf einer Konferenz der American Association of Physical Anthropology waren sich die Teilnehmerinnen daher einig, dass „Konferenzen, Expeditionen und Berufsreisen“ am besorgniserregendsten seien.
Eine Teilnehmerin berichtete sogar von einem Kollegen, der angab, allgemein nur an Konferenzen teilzunehmen, um eine Affäre zu haben. Insgesamt sagten knapp zwei Drittel der Befragten aus, während einer Expedition schon einmal sexuell belästigt worden zu sein (vgl. Williams und Massinger). Allein der Mangel einer Toilette kann hier ein immenses Problem darstellen.
Das Problem mit dem System
Doch leider lassen sich Exkursionen und teils übergriffige Vorgesetzte in den Naturwissenschaften kaum vermeiden, was an der strengen Hierarchie von MINT-Disziplinen liegt, wie Paula Johnson in der „Picture A Scientist“ Dokumentation erklärt:
„Wenn man über die Wissenschaften nachdenkt, dann haben wir jetzt ein System das auf Abhängigkeiten basiert. Da besteht eine einzigarte Abhängigkeit der Trainees […]. Egal ob mit oder ohne Bachelor-Abschluss, sie sind abhängig von der Belegschaft für ihre Fördermittel, ihre Zukunft. Und dadurch entsteht wirklich eine Dynamik, die höchst problematisch ist. Es kreiert eine Umgebung, in der sexuelle Belästigung passieren kann.“ (Übersetzung d.A.)
Die Picture A Scientist Dokumentation erzählt auch vom Fall Marchant. Jane Willenbring, eine seiner ehemaligen Doktorandinnen, teilt ihre Geschichte, aber auch eine weitere anonyme Stimme berichtet:
„Wenn man in der Antarktis wissenschaftlich arbeiten will muss man sich bei Polar Programs auf Fördermittel bewerben. Es gibt keine alternativen Quellen für finanzielle Förderung wenn man dort arbeiten will. Und einer der Wege, wie Dave [David Marchant] sich seine Autorität sicherte, war, mitzuentscheiden wer die Fördermittel bekam“ (Übersetzung d.A.)
Wie Williams und Massinger erläutern, können sexuelle Gefälligkeiten die Karriere einer jungen Wissenschaftlerin um Jahre beschleunigen – oder eben verlangsamen. Auch wenn diese Art der Übereinkunft in den letzten Jahrzehnten abgenommen hat, sind laut den Forscherinnen vor allem Doktorandinnen und Postdocs besonders gefährdet, „da ihre Zukunft so umfassend auf einer guten Empfehlung ihrer Professor*innen beruht“ (Übersetzung d.A.). Frauen in MINT-Berufen sind am Anfang ihrer Karriere abhängig von Einladungen zu Kooperationen und Zugang zu Forschungsmaterial, Equipment, und großen Datenbanken – und diese werden laut Williams und Massinger überwiegend von der älteren männlichen Belegschaft verwaltet.
Es ist einer der Gründe, warum 91 Prozent der Betroffenen schweigen – sie haben Angst, berufliche Privilegien zu verlieren oder anderweitig benachteiligt zu werden. “Konsequenzen zu ziehen wäre ein beruflicher Suizid gewesen“, sagt eine Teilnehmerin der ICIT Studie ganz klar und fügt hinzu; „ich habe mich gegen ein Verfahren entschieden, um weiter arbeiten zu können“ (Übersetzung d.A.).
Was ist zu tun?
Insgesamt braucht es einen klaren Kurswechsel, damit Betroffene mehr geschützt werden als Ansehen, finanzielle Interessen, und Institutionen. Laut Williams und Massinger ist der erste Schritt hierbei, „die Stille um sexuelle Belästigung zu durchbrechen“ (Übersetzung d.A.). In vielen der Fälle, welche inzwischen verurteilt wurden, war das Verhalten der übergriffigen (meist männlichen) Wissenschaftler bereits seit Jahren bekannt. Doch aufgrund ihres Prestiges lassen sich manche Universitäten Zeit, etwas dagegen zu unternehmen. „Mit der Reputation kontrollieren wir Verhalten,“ sagt Ben Barres, ein Neurobiologe aus Stanford: „das sind Serientäter. Sie gehen an eine andere Universität, und das gleiche Verhalten beginnt von Neuem. Warum machen wir das nicht öffentlich?“ (Übersetzung d.A.)
Ein weiterer Bericht empfiehlt ebenfalls, dass Fälle von sexueller Belästigung öffentlich gemacht werden.
Zudem wird dazu geraten, die Machtungleichheiten zwischen Studierenden und Betreuenden zu reduzieren. Sexueller Missbrauch soll zudem genauso streng behandelt werden wie wissenschaftliches Fehlverhalten (damit sind allgemein Plagiate, die Verfälschung und das Erfinden von Forschungsergebnissen gemeint).
Schließlich sind mal wieder nicht nur die Betroffenen benachteiligt. Laut Eddie Bernice Johnson nimmt auch die Qualität der Wissenschaften ab, wenn die besten Denker*innen nicht mehr dabei sind.
Cora Övermann
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