In dem letzten frau erfunden Artikel ging es um den oft unterbewussten Druck der Geschlechtererwartungen, dem Mädchen und Frauen ausgesetzt sind. Dieser wird nicht nur von der Gesellschaft, sondern auch von dem eigenen Kopf ausgeübt. Allerdings ist der Druck, sich traditionellen Rollen anzupassen, nicht der einzige, dem Wissenschaftler*innen ausgesetzt sind. Wie bereits beim letzten Mal angesprochen, sind die Wissenschaften ein sehr kompetitiver Beruf – eine Woche, in der man nicht dreißig oder vierzig, sondern eher auch mal fünfzig oder sechzig Stunden arbeitet. Wo man die Familie nur selten sieht. Und stattdessen immer der nächsten Publikation, der nächsten Fördersumme, dem nächsten Projekt hinterherjagt. Genau darum soll es in diesem Artikel gehen.
Die Fakten: Sind denn alle Wissenschaftler*innen überarbeitet?
Ein*e deutsche*r Arbeitnehmer*in sammelt im Durchschnitt pro Woche etwa vier Überstunden an. Für eine*n Nachwuchswissenschaftler*in sind es auf einmal zwölf. Für eine*n Naturwissenschaftler*in? Vierzehn. Das zeigt eine neue Umfrage des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW). Diese Arbeitszeit ist wichtig, weil die Ergebnisse unerlässlich sind. Wie sonst sollen sich Artikel veröffentlichen oder neue Fördermittel beantragen lassen? Es gibt schlicht nicht genug Geld für alle. Und genau da fängt der Wettbewerb an.
In den Naturwissenschaften gibt es ein englisches Sprichwort, das berühmt-berüchtigte Prinzip des „publish or perish“. Übersetzt heißt das in etwa so viel wie „publizier oder stirb“. Denn ohne die notwendige Anzahl der Publikationen in den richtigen Magazinen wird es leider nichts mit der (Be-)Förderung. So schreibt zum Beispiel auch die Berliner Zeitung:
„Im universitären Alltag sind Publikationen die wertvollste Währung, sie lassen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aller möglichen Fachbereiche und Disziplinen die Karriereleiter hinaufsteigen oder hinabstürzen. In einem großen Journal wie Science oder Nature zu publizieren, auch nur als eine oder einer von Hunderten Co-Autorinnen und Co-Autoren, kann der entscheidende Baustein für den Rest der Karriere sein […].“
Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, wie ein Beruf ohne feste Arbeitszeiten und mit wenig festen Stellen zu Überarbeitung und extremem Wettbewerb für alle führen kann. Aber wie genau betrifft das vor allem Frauen?
Geteilte Zeit ist halbe Zeit: Frauen und die Wissenschaften
Ein entscheidendes Problem sind hierbei mal wieder die Erwartungen. Im Schnitt verlassen Frauen die Wissenschaften deutlich öfter, um eine Familie zu gründen. Wie die Website academics.de berichtet:
„Frauen fallen oft aus Gründen der Familienplanung während der Postdoc-Phase aus der Wissenschaft. Auch wenn Maßnahmen ergriffen wurden und eine Trendwende zu beobachten ist, müssen sich Frauen ihren Platz in der Wissenschaft oft noch immer hart erarbeiten.“
Statistisch gesehen sind gerade einmal 22 Prozent der Spitzenpositionen in den Wissenschaften mit Frauen besetzt (academics.de). Aber nicht nur in den eigentlichen Jobs, auch in Komitees sind sie selten vertreten. Nancy Hopkins, die den berühmten MIT Report veröffentlichte, führte 2012 eine Umfrage durch und musste feststellen, dass in sogenannten „scientific advisory boards“ (kurz SABs, auf deutsch: wissenschaftliche Empfehlungskomitees) erschreckend wenige Frauen vertreten sind. Von 129 Teilnehmenden waren gerade einmal sechs Frauen. Warum? Weil Frauen weder gefragt werden, noch wird von Ihnen erwartet, dass sie teilnehmen wollen – sie haben schließlich genug anderes zu tun. Dabei ist so eine Position einiges an Prestige wert, und könnte so mancher Karriere weiterhelfen.
Denn wie zuvor schon beschrieben, herrscht ein großer Druck, möglichst viele wichtige Positionen und Publikationen vorzuweisen – für Frauen noch mehr als für Männer. Auf der einen Seite müssen Frauen mehr und größer veröffentlichen, um in den Naturwissenschaften als gleich talentiert angesehen zu werden. Auf der anderen Seite kommen sie gerade während der Corona-Krise weniger dazu, wie einige Studien belegen. Basierend auf einer Studie des Verlags Elsevier berichtet der Tagesspiegel:
„Bei der von Elsevier ermittelten Produktivität gibt es indes große Unterschiede zwischen den Fächergruppen. [Frauen sind] in männlich dominierten Fächern überdurchschnittlich produktiv. So veröffentlichen Frauen in Physik und Astronomie jährlich 4,03 Publikationen, bei den Männern sind es 3,27.“
Doch diese hohe Produktivität lässt sich gerade im Homeoffice mit eventueller Kinderbetreuung nur schwer halten. Was nicht nur für Einzelne und Alleinerziehende schwer ist – eigentlich leiden alle Beteiligten unter dem System. Und auch die Wissenschaft selbst leidet darunter.
Die Kunst der Kriegsführung: Effekte des Wettbewerbs
Was passiert, wenn man sich nicht mehr traut, den Kolleg*innen einen Flur weiter zu erzählen, woran man gerade arbeitet, aus Angst, sie könnten auf die gleiche Idee kommen? Zu den Effekten des Wettbewerbs in der Wissenschaft gehören reduzierter Wissensaustausch, eine weniger kollegiale Arbeitsatmosphäre, Misstrauen, Manipulation (von Menschen und von Forschungsergebnissen) und ganz allgemein: noch mehr Druck. In einem Interview hat ein befragter Wissenschaftler dazu aufgefordert, „The Art of Warfare“ zu lesen, um in den Naturwissenschaften erfolgreich zu sein – auf deutsch: die Kunst der Kriegsführung. Denn so extrem empfinden es Wissenschaftler zur Zeit.
Zwar stellt der Wettbewerb einerseits sicher, dass nur die besten Ergebnisse veröffentlicht werden, und treibt so die Qualität der Wissenschaft in die Höhe – allerdings wird damit auch viel kaputt gemacht. Es wurde zum Beispiel bewiesen, dass konstanter Druck sich vor allem auch negativ auf die Kreativität der Wissenschaftler*innen auswirkt. Und ohne Kreativität ist wissenschaftliches Arbeiten nun wirklich sinnlos.
Cora Övermann
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