Eine streng gläubige Muslimin ohne Kopftuch, die für eine sexuelle Revolution in der islamischen Welt kämpft, bietet große Angriffsflächen für jeden konservativ geprägten Mitmenschen. Trotz einiger Rückschläge hat Seyran Ateş nie eine Befreiung aus negativen Folgen fundamentalistischer Islamauslegung aufgegeben, und nun vor wenigen Tagen eine liberale Moschee in Berlin eröffnet.
Befreiung aus der traditionellen Frauenrolle
1963 wurde Seyran Ateş in Istanbul geboren, sechs Jahre später folgt sie ihren zuvor als Gastarbeiter ausgewanderten Eltern nach Berlin. Als Mitglied einer sunnitisch-muslimischen Großfamilie hat sie von Geburt an mit der traditionellen Frauenrolle ihrer Religion zu kämpfen, die sie in der Schule sozial isolierte. Im Alter von 17 Jahren entscheidet sich Ateş, von zu Hause in ein selbstbestimmteres Leben zu fliehen und hauste fortan in einer Wohngemeinschaft. Mit dem Verfassen der ersten eigenen Autobiografie blüht ihr Interesse für unterdrückte Frauen auf; neben dem Rechtswissenschaftsstudium beginnt sie 1983 eine Tätigkeit in einer Beratungsstelle für türkische Frauen.
Das Attentat
Einhergehend mit dem frauenpolitischen Engagement positioniert sich Seyran Ateş 1983 erstmals öffentlich, unter anderem zum Thema Kopftuch bei Musliminnen, Zwangsheirat oder Ehrenmord. Ein Jahr später wird sie Opfer eines politischen Anschlags: Während eines Beratungsgespräches wird ihre Klientin erschossen, sie selbst schwer verletzt. Der Täter war ein Auftragskiller der Grauen Wölfe, einer rechtsextremen, türkischen Partei der Nationalistischen Bewegung. Sechs Jahre später kann Ateş ihr Studium wieder aufnehmen, 1997 beginnt sie als Rechtsanwältin mit dem Schwerpunkt Straf- und Familienrecht zu arbeiten.
Engagiert in der Migrationspolitik
2003 fordert Seyran Ateş einen eigenen Straftatbestand für Zwangsheirat im deutschen Strafgesetzbuch. Ihr mit der Forderung verbundenes Engagement in der deutschen Ausländerpolitik entfacht ein kritisches Medienecho, erreicht 2011 dennoch seine Realisierung.
2006 beschließt sie, aufgrund vermehrt aufkommender Drohungen, die sich nicht mehr nur an sie, sondern auch an ihre 2004 geborene Tochter richten, ihre Anwaltskanzlei zu schließen; 3 Jahre später will sie sich vollends aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Wenige Jahre später macht sie dennoch bekannt, dass sie ihre juristische Arbeit wieder aufnehmen wird.
Der Kampf um eine Liberale Moschee
„Ich träume von einer Moschee, in der alle Menschen zusammenkommen, die sich für den Islam interessieren und/oder daran glauben. Eine Moschee, in der es keine Geschlechterapartheid gibt und daher Männer und Frauen im selben wunderschönen Raum beten können. Das ist räumlich machbar! Der Mensch muss es nur wollen, wie alles andere im Leben auch.
Meines Erachtens können wir gegen Hassprediger nur ankommen, wenn wir ausreichend Liebe predigen. Das geschieht nun mal vor allem in der Moschee. Die Jugend und liberale Muslime haben zurzeit keine Alternative zu den konservativen, teilweise verkrusteten Moschee-Gemeinden.(..)“
Die Ausbildung zur Imamin 2016 war der letzte Schritt zur Realisierung dieser liberalen Moschee in Berlin. Acht Jahre hat sie dafür gekämpft, dass Männer und Frauen gemeinsam in einer Räumlichkeit beten, die Leitung sowohl von einem Imam, als auch einer Imamin übernommen wird.
Vor wenigen Tagen wurde die Moschee in den Räumlichkeiten der Moabiter St. Johanniskirche eröffnet. Finanziert wurde das Projekt durch Spenden; ein eigenes Gebetshaus soll realisiert werden, sobald die ausreichenden geldlichen Mittel zur Verfügung stehen. Mächtiger Gegenwind wirbelt auch hier auf. So halten viele Menschen eigene Räumlichkeiten für dringend notwendig, denn die evangelische Kirche könne damit zum Ziel extremistischer Angriffe werden; man habe sich den Terror ins Haus geholt, heißt es aus einigen Mündern.
Ausgezeichnetes Engagement
Neben dem frauenpolitischen und muslimischen Aktivismus engagiert sich Seyran Ateş auch für die Entstehung von Friedensschulen, in denen Toleranz und Vielfalt eine angemessenere Rolle einnehmen sollen. Die Gesamtheit all ihrer Hingabe hat für sie schon zu etlichen Auszeichnungen geführt, darunter auch zum deutschen Bundesverdienstkreuz.
Trotz ihrer strengen Gläubigkeit hat sich Seyran Ateş nie in eine von ihrer Religion vorgeschriebene Rolle hineinzwingen lassen und steht unnachgiebig für ihre Rechte und die ihrer (weiblichen) Mitmenschen ein. Eine Frau, die Stärke beweist und unseren Titel als Frau der Woche in absoluter Würde trägt.
Vivien Koschig
Kritika meint
Glückwunsch, Frau Seyran Ates.
Vielleicht werden Sie die Luther-in des Islam.
Mit einer gründlichen Reformation könnte der Islam von dem heutigen verdienten Image als die einzige „Religion der Querulanten“ in Deutschland zu einer der vielen ganz normalen und respektierten Religionen hier aufsteigen.
Viel Erfolg,
Kritika
Karo meint
Was Seyran Ates gewagt hat ist großartig und zeigt, dass der Islam inzwischen eben doch zu Deutschland gehört. Wer das nicht sieht, verschließt seine Augen vor der Realität.
Dehning, Hans Jürgen meint
Großartig, was Seyran Ates gewagt hat. Sie macht uns Hoffnung auf einen Islam, der mit unseren demokratischen Werten vereinbar ist. Die Reaktion auf ihr Wagnis zeigt, dass Pluralismus und Toleranz für konservative Muslime Fremdwörter sind. „Der Islam gehört zu Deutschland“, das kann nur einer sagen, der den Koran nicht gelesen hat und die Augen vor der Realität verschließt oder der sich anbiedert, damit seine Partei von ihnen gewählt wird.
Ronja meint
Eine großartige und mutige Frau!