Es ist 09:31 am 11. Oktober 2022. Vor etwa zwei Stunden habe ich meinen ersten Kaffee getrunken und die neusten Artikel auf Autostraddle gelesen. Autostraddle sagt, Madonna ist lesbisch (Madonna Is Bad at Basketball — or She Just Came Out as Gay (autostraddle.com)). Nun wo ich bei meinem zweiten Kaffee angekommen bin und Zeit hatte, etwas zu googeln, sind die Medien voll von dieser Meldung. Die Schlagzeilen sind vorsichtig formuliert:
Is Madonna Gay? Singer Hints At Her Sexuality In Recent TikTok: What Madonna Has Said About Her Sexuality As Fans Debate Whether She Just Came Out On TikTok [Your Tango]
Madonna leaves fans wondering if she came out as gay with TikTok Video… [Yahoo! News]
Here’s Why Fans Think Madonna Just Came Out As Gay At Age 64 [Yahoo.com]
Madonna Seemingly Comes Out as Gay [tmz.com]
Madonna claiming to be gay is her most ridiculous stunt yet [The Sun]
All diese Quellen möchten sich offensichtlich nicht darauf festlegen, ob Madonna denn nun lesbisch ist oder nicht. Sie beziehen sich auf ein TikTok-Video, in dem Madonna sich als solches outet. Das Video ist an sich sehr eindeutig: auf dem Bildschirm steht „if I miss, I’m gay“ („wenn ich nicht treffe, bin ich lesbisch“). Nach dieser Ansage wirft Madonna eine pinke Unterhose gekonnt vor den Mülleimer. Fazit laut Video: Madonna ist lesbisch.
Hier sind ein paar der Faktoren, die für Ungewissheit sorgen. 1. Das Video wird für einen Schrei nach Aufmerksamkeit gehalten. 2. Das Format, nach dem Madonna sich präsentiert, ist ein aktueller TikTok-Trend – Madonna könnte also einfach nur einen Trend aufgegriffen haben. 3. Das Wort „gay“ im englischen Sprachgebrauch ist nicht ganz so eindeutig wie das deutsche Wort „lesbisch“, sondern kann eine Mehrzahl von sexuellen Identitäten umfassen. Klar ist jedoch, dass hetero keine davon ist.
Weitere Reaktionen
Nach dieser verblüffenden Meldung war ich neugierig, wie Nutzer*innen auf anderen Plattformen darauf reagieren. Ich hatte angenommen, dass Madonnas Coming-out ein Grund zum Feiern wäre – egal ob sich Madonna in der Zukunft als lesbisch bestätigt oder nicht. Hier sind einige anonyme Reaktionen von Nutzer*innen auf der Plattform Tumblr:
Wie sich aus diesen Kommentaren erschließen lässt, sind die Reaktionen überwiegend negativ. Madonna wird als Großmutter bezeichnet und behandelt wie eine Kuh, die keine Milch mehr gibt, und der man stattdessen endlich die Kugel geben sollte. Die Nutzer*innen sagen, Madonna sollte in ihrem Alter mal nicht so spät aufbleiben, mit den Schönheits-OPs aufhören, und sich unter bessere Beleuchtung stellen, da sie sonst aussieht wie Marilyn Manson.
Sagt mal, geht’s eigentlich noch?
Ich habe absolut keine Ahnung, ob Madonna denn nun lesbisch ist oder nicht. Insgesamt bin ich auch mindestens drei Jahrzehnte zu jung, um überhaupt etwas Produktives zu Madonna sagen zu können. Meine erste Erfahrung mit ihr war der berühmt-berüchtigte Kuss mit Britney Spears bei den MTV Awards 2003. Da war ich acht. Weisere und erfahrenere Instanzen im Internet teilen mir mit, dass Madonna schon lange als bisexuell gehandelt wurde und sich zudem seit den 1980ern aktiv für die LGBTQ-Szene einsetzt. Es gibt einige Personen, die von ihrem Coming-out also nicht im Geringsten überrascht sind.
Was mich überrascht, sind die Reaktionen im Internet. Die Nachrichtenmeldungen kann ich noch verstehen – man möchte sich nicht auf etwas festlegen, was nur schwer überprüfbar ist. Die Reaktionen der anonymen Nutzer*innen verstehe ich allerdings überhaupt nicht. Was für eine queerfeindliche und altersverachtende Haltung ist das denn bitte? Madonna ist 64. Da ist das Leben noch lange nicht vorbei. Dennoch wird sich laut Google am häufigsten gefragt, ob Madonna denn überhaupt noch lebt:
Later in Life
Ziel dieses Artikels ist nicht, Madonnas sexuelle Orientierung zu diskutieren. Das werde ich Madonna selbst überlassen. Stattdessen möchte ich ein klares Signal senden für Akzeptanz eines Coming-outs in jedem Lebensalter. Nur weil viele Menschen in der jüngeren Generation, mich selbst eingeschlossen, das Glück hatten, ihre Identität früh zu entdecken und ausleben zu können, heißt das noch lange nicht, dass alle Menschen die gleichen Freiheiten genießen. Eine Person, die so zentral im Scheinwerferlicht steht wie Madonna, outet sich vielleicht lieber erst etwas später – auch wenn mir bewusst ist, dass Madonna eigentlich selten ein Blatt vor den Mund nimmt.
Auch in meinem Umfeld höre ich von Menschen, die ihr Coming-out knapp vor 30, 40, 50 oder 60 haben. Holland Taylor hatte ihr Coming-out mit 72. UND DAS IST OKAY. Sexuelle Orientierung ist ein Prozess, der für alle Menschen unterschiedlich voran geht. Es sollte jedoch immer klar sein, dass die absolute Autorität darüber bei der Person selbst liegt. Worum es mir also eigentlich geht, ist Glaubwürdigkeit. Wenn jemand sich outet, sollte dieses Outing nicht hinterfragt werden, sondern akzeptiert. Es wäre schön, wenn auch die Medien das widerspiegeln würden. Sowohl in den Nachrichten, als auch in Filmen und TV-Serien. Viele queere Produktionen sind sehr Highschool-lastig. Es gibt aber auch ältere queere Menschen. Und die haben genau so viel Aufmerksamkeit und Akzeptanz verdient, wie alle anderen auch.
Jack
Nachtrag 1: Wie durch magische Gedankenübertragung hat auch Autostraddle einen nachfolgenden Artikel zum Thema Coming-out im fortgeschrittenen Alter geschrieben. Der Artikel ist voller nützlicher Ratschläge für alle, die ihr Coming-out noch vor sich haben: I’m 49, Is It Too Late for Me To Come Out as Queer? (autostraddle.com)
Nachtrag 2: Wikipedias kürzlich aktualisierte Website zu Madonnas Geschichte als LGBTQ-Ikone und Aktivistin gibt es hier: Madonna as a gay icon – Wikipedia
Schreibe einen Kommentar