An alle, die diese Zeilen lesen, zunächst einmal: alles Gute zum Pride Monat 2022! In diesem Artikel möchte ich das Thema „Pride“ zumindest angemessen erwähnt haben, auch wenn es an sich eher ein Reisebericht wird. Wer den Film „Pride“ von 2014 kennt, kann auch gleich mein Reiseziel erraten.
AUSGERECHNET WALES
Wie die Gruppe LGSM (Lesbians and Gays Support the Miners/ Lesben und Schwule unterstützen Bergarbeiter) im Jahr 1984 begab auch ich mich, im Jahre 2022, für eine gute Woche nach Wales. Grund dafür war eine internationale Veranstaltung an der Universität in Cardiff, womit ich also doch nicht so ganz auf dem Land gelandet bin wie es der Film darstellt. Als ich die lokale Bevölkerung gefragt habe, was man sich so über Wales erzählt, bekam ich die Antwort: „mehr Schafe als Menschen“. Doch schon bevor ich an Ort und Stelle war blätterte ich die Listen der Teilnehmer*innen durch und fragte mich: „aber gibt es da auch so Menschen wie mich?“
Die Aussicht, als einzige queere Person eine Woche lang irgendwo unterwegs zu sein, war am Anfang nicht allzu rosig. Dazu kommt, dass auf dem Hinflug nach reichlicher Verspätung mein Gepäck verloren ging (danke, Amsterdam) und ich ohne jegliche Sehhilfe oder Kleidung zum Wechseln in Cardiff ankam. Die ersten Tage war ich also nicht nur allein, sondern nahm zudem auch noch alles ziemlich verschwommen wahr.
Mit Beginn der Veranstaltung und der glorreichen Rettung durch Kontaktlinsen wurde es deutlich besser. Man lernte die anderen Teilnehmer*innen kennen, die sich nach und nach vorstellten, und dennoch brauchte es vielleicht zwei-drei Tage bis aus der allgemeinen Formulierung „my partner“ dann „my girlfriend“ wurde und ich merkte – ich war doch nicht allein in Wales!
QUEERE BEGEGNUNGEN
Insgesamt bin ich, zumindest meines Wissens nach, drei queeren Personen in Wales in unterschiedlichen Situationen und mit unterschiedlichen Ergebnissen begegnet. Bei allen dreien möchte ich mich hiermit dafür bedanken, dass sie die Regenbogenflagge die aktuell Cardiff’s Straßen direkt vor Cardiff Castle ziert, etwas greifbarer gemacht haben.
Die erste Person war eine weitere Teilnehmerin des Events an der Universität. Ich weiß natürlich nicht, wie sie es empfand, aber für mich schaffte die Erkenntnis geteilter Queerness eine Art Verbundenheit und Sympathie. Auch wenn wir uns hauptsächlich über Literatur unterhalten haben war es einfach schön zu wissen, dass da noch jemand ist. Damit fühlte man sich an Ort und Stelle etwas besser integriert und aufgehoben.
Die zweite Person war ebenfalls beim Event anzutreffen, allerdings erst einige Tage später und auch nur für wenige Stunden. Das Thema war: Karriere in den Wissenschaften. Während ihres Vortrags fiel wieder dieser Satz „my partner and I“, der im persönlichen Gespräch dieses Mal durch „my wife“ ersetzt wurde. Ich identifizierte mich umgehend ebenfalls als queer und fing an, Fragen über das Leben als queere Frau in der Wissenschaft zu stellen. Mit kaum einer anderen Person hätte ich so ein bereicherndes Gespräch über die diversen Entscheidungen die man trifft führen können, und ich bin hier ebenfalls sehr dankbar. Ich bin mir selbst noch nicht sicher, ob ich mein Berufsleben als offen queer führen möchte, und zum Glück muss ich das auch noch nicht entscheiden. Gleichzeitig habe ich erfahren und parallel erzählt bekommen, wie wichtig eine queere Ansprechperson zum Beispiel auch für Lernende ist. „Im letzten Jahr haben mir gleich vier Lernende von ihrer Identität als trans erzählt“, beschrieb die Frau die ich da ausfragte mit gemischten Gefühlen. Einerseits war sie stolz, dass man sich ihr anvertraute. Andererseits war sie traurig, dass sie von Lernenden als „die sicherste Option“ eingeschätzt wurde. Immer wieder wurde mir hierbei die Bedeutung von queeren Vorbildern im Alltag bewusst.
Die dritte und letzte Begegnung ergab sich außerhalb der Universität, an einem Freitagmorgen in Cardiff als ich einige britische Pfund vor meiner Abreise wieder loswerden musste. Ich ging also zu einem Buchladen und fand an der Kasse eine nette junge Person vor, mit den Pronomen „he/they“ als Anstecker auf der Brust. Ich komplimentierte den Anstecker und freute mich über die offene und unkomplizierte Art des Queerseins mitten in der Innenstadt von Cardiff.
LESBIANS AND GAYS CHALLENGE SOME MINERS*
(*one lesbian, one miner)
Bevor ich zum Abschluss dieses Artikels und meiner Abreise aus Wales komme möchte ich noch von einer Begebenheit erzählen, welche sich Mitte der Woche an keinem anderen Ort als in einem Bergbaumuseum zutrug. Viele der Mitarbeitenden waren echte ehemalige Bergarbeiter – allesamt männlich. Man stelle sich bitte entsprechende Umgangsformen und eine traditionelle Geschlechterverteilung vor. Es fielen einige Witze über die Ehefrauen früherer Bergarbeiter, welcher natürlich mit den Kindern zuhause blieben während die Männer arbeiten gingen.
Dementsprechend brauchte es für die Demonstration der Bergbaugeräte und Schippen einen „starken jungen Mann“ welcher diese einmal testen sollte. Ein Bekannter aus der Universität hat sich hierbei heldenhaft geschlagen, bevor ich – einen Kopf größer und mit wärmster Erinnerung an den Traktorreifen beim Boxtraining – die gleiche Schippe trug und das Gewicht darauf gleich nochmal erhöhen ließ. Ich gebe zu, dass die Schippe dann doch sehr schwer wurde, dennoch war ich von einem Trotz mit dem Kaliber Anne Lister besessen. Eine Frau, übrigens, die ja selbst auch im Kohlehandel aktiv war, wie durchaus auch an der Universität erwähnt wurde. Zum Glück reiste ich wieder ab, bevor dieses Experiment wiederholt werden konnte.
ÜBER (DIE) TAGE
Die Abreise aus Wales überstand ich ohne weitere Zwischenfälle und kam erschöpft, aber auch um einige Lebenserfahrung bereichert wieder in Bremen an. Ich habe gelernt, dass auch Bergarbeiter ihren „Pride“ bzw. Stolz haben, und dass Pride eigentlich alltäglich umgesetzt wird, und nicht nur jedes Jahr im Juni. Ich werde mir eines Tages noch einmal Gedanken machen müssen, wie und unter welchen Umständen ich mit meinem eigenen „Pride“ hervortreten möchte. Zum Glück kann ich diese Reise einen Schritt nach dem anderen antreten.
Bis dahin grüßt euch eure (nun wieder lokale) gentle-woman
Jack
Hannah meint
Mal wieder ein toller Artikel, es ist immer interessant, zu sehen, wie bunt andere Orte sind! Das Thema der öffentlichen/beruflichen “Pride” ist auch kompliziert, ich merke immer wieder, dass ich nicht eine einmalige Entscheidung treffen sondern mich – ähnlich wie mit den wiederholten Coming Out – in vielen Situationen immer wieder aufs Neue entscheiden muss, wie viel meiner Identität ich gerade preisgeben will…Sehr spannend. Und eine super hübsche Illustration!