Ein kurzes, unerwünschtes Streicheln über den Rücken durch Kolleg*innen, eine Beleidigung durch Kund*innen, eine non-verbale, gestische Drohung durch Vorgesetzte – das alles kann Gewalt am Arbeitsplatz sein. Und das alles muss man nicht erdulden oder ertragen. Es ist verboten. Was man als Betroffene*r, Zeug*in, Vorgesetzte*r oder arbeitsgebende Instanz im Fall von Gewalt am Arbeitsplatz tun kann, erfahrt Ihr in diesem Artikel.
Was zählt alles zu Gewalt?
Gewalt hat viele Facetten und ist entgegen vieler Annahmen nicht ausschließlich der tätliche Angriff auf den eigenen Körper. Zu Gewalt zählen unter anderem auch verbale Entgleisungen wie Beschimpfung, Bedrohung oder Erniedrigung, „tätliche Übergriffe oder deren Androhung“, Mobbing, Drohungen durch Mimik oder Gestik und sexuelle Belästigung. Allgemein versteht die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) unter Gewalt „eine Bandbreite von inakzeptablen Verhaltensweisen und Praktiken oder deren Androhung, gleich ob es sich um ein einmaliges oder ein wiederholtes Vorkommnis handelt, die auf physischen, psychischen, sexuellen oder wirtschaftlichen Schaden abzielen, diesen zur Folge haben oder wahrscheinlich zur Folge haben, und umfasst auch geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung.“
Gewalt am Arbeitsplatz unterscheidet sich zu Gewalt in anderen Sozialbeziehungen vor allem dadurch, dass man zum einen nur begrenzt die Möglichkeit hat, sich der Situation vollständig zu entziehen. Zum anderen herrschen Verantwortlichkeiten der arbeitsgebenden Institutionen, ihre Mitarbeiter*innen zu schützen und Prävention sowie Opferhilfe zu leisten.
Was tun als Betroffene*r?
Solltet Ihr Opfer derartiger gewalttätiger Übergriffe werden, müsst Ihr dies keinesfalls akzeptieren und auf sich beruhen lassen. Denn die arbeitsgebende Instanz ist aus arbeitsrechtlicher Fürsorgepflicht dazu verpflichtet, ihre Mitarbeitenden zu schützen (§75 Betriebsverfassungsgesetz). Als Beschäftigte*r habt Ihr einen Anspruch auf einen Arbeitsplatz ohne Gefährdungen.
Im Falle von (sexueller) Belästigung aufgrund von beispielsweise Geschlecht, sexueller Identität, ethnischer Herkunft oder des Alters gilt außerdem das Beschwerderecht (§13 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG)). Als Betroffene*r könnt Ihr Euch intern bei zuständigen Stellen innerhalb des Unternehmens über Belästigung am Arbeitsplatz beschweren. Zu diesen Stellen zählen zum Beispiel Vorgesetzte, der Personal- oder Betriebsrat, die Gleichstellungsbeauftragten oder die Personalabteilung.
Sollte die arbeitsgebende Instanz daraufhin keine oder ungeeignete Maßnahmen zum Schutz ergreifen, habt Ihr nach §14 AGG ein Leistungsverweigerungsrecht. Durch dieses werdet Ihr dazu befugt, bei Erhalt vollen Gehalts nicht mehr zur Arbeit zu erscheinen. Dadurch könnt Ihr dann der Belästigung entgehen. Darüber solltet Ihr die arbeitsgebende Instanz vorher aber schriftlich informieren. Außerdem habt Ihr als geschädigte Person in einigen Fällen Anspruch auf Schadensersatz beispielsweise für anfallende Arzt- oder Therapiekosten oder auf Schmerzensgeld als Entschädigung (§15 AGG). Hierbei zu beachten ist die zweimonatige Frist.
Aber mal abgesehen von der rechtlichen Situation und den geltenden Ansprüchen: Was sind sinnvolle Handlungsschritte im (Akut-)Fall von Gewalt am Arbeitsplatz?
Diplom-Psychologin Anne Gehrke vom Institut für Arbeit und Gesundheit der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung empfiehlt für den Akutfall von verbaler Gewalt Folgendes:
“Jede Situation erfordert ein lageangepasstes Reagieren. Im Falle von kontroversen Gesprächssituationen und verbaler Aggression hilft: Eine aufrechte, offene Haltung annehmen, Blickkontakt herstellen und Ruhe bewahren, Techniken des aktiven Zuhörens anwenden, selbst nicht aggressiv oder ablehnend auftreten, Antworten positiv formulieren, möglichst wenig Frustration erzeugen, bei Beschimpfungen ruhig und besonnen bleiben, die aggressive Person nicht einschüchtern, bedrohen oder anfassen, im Gespräch bleiben und immer sinnvoll: Hilfe hinzuziehen! Aus verbaler Gewalt kann leider auch körperliche Gewalt werden. Deswegen sollte immer die Eigensicherung beachtet werden und im Zweifelsfall sollte man sich immer in Sicherheit bringen sowie Hilfe holen (z. B. je nach Situation Führungskraft, hausinternen Sicherheitsdienst, Polizei).” Anne Gehrke
Es ist im Akutfall von körperlicher Gewalt auch sinnvoll, Zeug*innen auf die Situation aufmerksam zu machen und sich die Merkmale des*r Täter*in einzuprägen, damit Ihr diese*n später so genau wie möglich beschreiben könnt. Nach dem Übergriff solltet Ihr, sofern vorhanden, auch betriebliche Ersthelfer*innen kontaktieren.
Sollte es sich bei der Gewalt um Mobbing handeln, kann es außerdem sinnvoll sein, ein Mobbingtagebuch zu führen. Dies erleichtert Euch im Nachhinein das Beweisen der Vorfälle. Gerichte erkennen Mobbingtagebücher mittlerweile häufig an, sofern sie konsequent geführt wurden. In ein Mobbingtagebuch gehört unter anderem Datum, Uhrzeit, was vorgefallen ist und die handelnde Person (für eine umfassendere Liste hier klicken). Persönliche Wertungen, Vermutungen oder Beschimpfungen sollten nicht darin stehen.
Handelt es sich bei dem Übergriff um sexuelle Belästigung, ist es wichtig, dass Ihr der belästigenden Person klarmacht, dass Ihr Euch belästigt fühlt. Vielleicht versteht die Person gar nicht, dass Ihr ihr Verhalten als belästigend empfindet, sondern sieht dieses als Spaß an. Aber nur weil die belästigende Person das Verhalten als Spaß empfindet, bedeutet das nicht, dass Eure Gefühle falsch sind. Wenn Ihr Euch durch die Taten belästigt fühlt, sind Eure Gefühle valide und die Person muss ihr Verhalten ändern. Ihr habt das Recht, euch zu beschweren und Eurer Unwohlsein zu äußern.
Womöglich könnt Ihr auch mit Konsequenzen drohen, sollte der*die Täter*in die Belästigungen nicht unterlassen. Konsequenzen wären dann beispielsweise das Informieren des*r Arbeitgeber*in und/oder betrieblicher oder externer Anlaufstellen.
In jedem Fall ist es sinnvoll und wichtig, dass Ihr jegliche Vorfälle meldet – egal ob es sich um Übergriffe durch Dritte, Kolleg*innen oder Vorgesetzte handelt. Dafür gibt es unterschiedliche Ansprechpersonen:
“Ist eine Beschäftigte oder ein Beschäftigter von externer oder kollegialer Gewalt betroffen, wendet sie sich am besten an ihre oder seine Führungskraft. Ist die Führungskraft selbst beteiligt, so können sich Betroffene an die betriebliche Ansprechperson (z. B. Vertrauensperson, Interessenvertretung, Betriebsärztin oder Betriebsarzt) wenden.” Anne Gehrke
Weitere mögliche Ansprechpersonen für Euch sind auch Sicherheits- und Gleichstellungsbeauftragte innerhalb des Unternehmens, Sozialdienste oder Beratungsstellen der gesetzlichen Unfallversicherungsträger. Im Fall von Bremen wäre dies beispielsweise die Unfallkasse Freie Hansestadt Bremen. Die Ansprechpersonen innerhalb des Unternehmens sollten durch Aushänge oder Meldungen im Intranet bekannt sein.
Solltet Ihr Euch dazu entscheiden, offiziell Beschwerde einzureichen, könnt Ihr dies nicht nur intern, sondern auch extern bei beispielsweise Gewerkschaften, Anwält*innen, Frauenberatungsstellen oder der Antidiskriminierungsstelle des Bundes tun. Es ist dabei häufig sinnvoll, Euch vorher juristischen Rat einzuholen. So könnt Ihr frühzeitig mögliche Fallstricke und Argumentationsstrukturen erkennen. Beratung bietet hierfür beispielsweise die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (hier zum Kontakt) oder das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen (hier zum Kontakt). Diese leiten bei Bedarf auch an regionale Hilfs- und Beratungsangebote weiter.
In manchen Fällen kann Gewalt am Arbeitsplatz auch ein (meldepflichtiger) Arbeitsunfall sein, bei dem Ihr Unfallanzeige erstatten müsst. Ein Unfallereignis sei laut Anne Gehrke “ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis, das zu einem [physischen oder psychischen] Gesundheitsschaden führt”. Dazu könne auch verbale sowie physische Gewalt zählen.
“Die Unfallanzeige ist [dann] zu erstatten, wenn ein Arbeitsunfall oder ein Wegeunfall (z.B. Unfall auf dem Weg zwischen Wohnung und Arbeitsstätte) eine Arbeitsunfähigkeit von mehr als drei Kalendertagen oder den Tod eines Versicherten zur Folge hat. Innerhalb der Schülerunfallversicherung ist ein Arbeitsunfall anzeigepflichtig, sobald er eine ärztliche Behandlung zur Folge hatte.” Anne Gehrke
Ihr als Betroffene könnt Euch auch selbst an die Unfallversicherungsträger melden, sollte dies beispielsweise nicht durch Eure arbeitsgebende Instanz erfolgen. Die gesetzlichen Unfallversicherungsträger erbringen laut Anne Gehrke außerdem auch im Fall von nicht-meldepflichtigen Arbeitsunfällen psychologische und medizinische Versorgungsleistungen, sofern Ihr die Vorfälle trotzdem meldet. Nehmt diese gerne in Anspruch!
Generell raten wir in dem Fall, dass Ihr von Gewalt am Arbeitsplatz betroffen seid, zur Nachsorge dazu, professionelle Hilfsangebote beispielsweise von Beratungsstellen oder Psycholog*innen wahrzunehmen.
Außerdem ist es immer hilfreich, Rechtsberater*innen aufzusuchen. Ob Strafverfolgungsbehörden einzuschalten sind, ist dann pro Einzelfall zu prüfen. In der Regel ist die Erstattung von Strafanzeige aber sinnvoll. Im Falle der vorsätzlichen Körperverletzung können dies auch Eure Dienstvorgesetzten tun.
Was tun als Zeug*in, Vorgesetzte*r oder arbeitsgebende Instanz?
Nicht nur als betroffene Person selbst ist es wichtig, Maßnahmen gegen Gewalt am Arbeitsplatz zu ergreifen. Auch die Unterstützung seitens Kolleg*innen, Vorgesetzten und der arbeitsgebenden Instanz ist unerlässlich. Denn Gewalt am Arbeitsplatz kann schwere kurz- sowie langfristige Folgen für Betroffene haben – von körperlichen Schäden und Verletzungen bis zu psychischen Folgen wie posttraumatischen Belastungsstörungen, Suchtmittelmissbrauch oder Suizidalität.
Als Zeug*innen
Befindet Ihr Euch im Akutfall und werdet Zeug*in eines Gewaltübergriffs am Arbeitsplatz müsst Ihr die Situation unbedingt ernst nehmen. Auf keinen Fall solltet Ihr den*die Held*in spielen. Die eigene Sicherheit und die der Kolleg*innen geht vor. Also gilt es auch hier, Abstand zu halten und sich womöglich die Merkmale des*r Täter*in einzuprägen. Im Nachhinein ist es sinnvoll, ein Gedächtnisprotokoll anzufertigen. Außerdem solltet Ihr auf die Polizei warten, um eine Aussage zu machen, sofern diese informiert wurde. Und auch als Zeug*in könnt Ihr die Vorgesetzten über den Vorfall informieren.
Das Wichtigste ist aber, sowohl als Kolleg*in als auch als Führungskraft, dass Ihr Euch um das Opfer kümmert, es auffangt und seelisch unterstützt. Zeigt Verständnis und Anteilnahme, gebt Rückhalt und Sicherheit, habt ein offenes Ohr und sichert Unterstützung zu. Auch kann es sinnvoll sein, die Opfer bei den nächsten Schritten zu unterstützen. Dazu könnt Ihr sie zu Ärzt*innen begleiten und die Angehörigen informieren. Außerdem solltet Ihr sicherstellen, dass die Betroffenen nicht nur am selben, sondern auch in den Folgetagen weiterhin betreut werden.
Als Vorgesetzte*r oder arbeitsgebende Instanz
Als Arbeitgeber*in seid Ihr dazu verpflichtet, Eure Mitarbeitenden zu schützen. Ihr dürft nicht tatenlos bei Übergriffen am Arbeitsplatz zusehen. Sonst macht Ihr Euch selbst strafbar durch Beihilfe oder Unterlassen. Mögliche Maßnahmen, um auf Gewalt am Arbeitsplatz zu reagieren, sind Hausverbote (gegenüber Dritten) oder Kündigungen, Abmahnungen oder Versetzungen (im Fall von Mitarbeitenden). Auch könnt Ihr Strafanzeige erstatten, um so die anderen Mitarbeitenden zu schützen. Anstelle einer Strafverfolgung kann aber auch eine innerbetriebliche Konfliktlösung beispielsweise in Form eines Täter*innen-Opfer-Ausgleichs erfolgen. In jedem Fall setzt Ihr damit ein klares Zeichen der Null-Toleranz gegenüber Gewalt.
Um außerdem zu gewährleisten, dass sich Betroffene im Falle von Gewalt an jemanden innerhalb des Betriebs wenden können, wird laut Anne Gehrke empfohlen, “im Betrieb eine Vertrauensperson als interne Anlauf- und Beratungsstelle zu benennen, die als „neutrale Institution“ eine Ansprechpartnerin sowohl für die Kontaktaufnahme als auch für Erstgespräche zur Verfügung steht”.
Nicht zuletzt ist auch die Dokumentation jeglicher Übergriffe und Androhungen sinnvoll.
“Auch wenn zunächst keine Leistung [der gesetzlichen Unfallversicherung] benötigt wird, sollten Gewaltereignisse im Betrieb dokumentiert werden (z. B. Meldeblock, Formblatt). Denn: Psychische Auswirkungen können auch verzögert auftreten!” Anne Gehrke
So kann sich auch nachträglich an die Versicherung gewandt und die Opfer somit unterstützt werden.
Die Dokumentation kann später außerdem bei der Gefährdungsbeurteilung und Entwicklung von Präventionsmaßnahmen helfen. Denn auch präventiv könnt Ihr einiges gegen Gewalt am Arbeitsplatz tun. Hier bietet sich das STOP-Prinzip an. Dieses besteht aus Substitution, technischen und baulichen Maßnahmen, organisatorischen Maßnahmen und personenbezogenen Maßnahmen zum Schutz der Beschäftigten am Arbeitsplatz. Was das genau bedeutet und wie derartige präventive Maßnahmen aussehen können, erfahrt Ihr hier.
Mit am wichtigsten ist aber wohl, ein Nachsorgekonzept zu erarbeiten, das den Handlungsablauf nach einem Gewaltvorfall festlegt. Dieses kann unter anderem Handlungsvorschriften zur Vermeidung der Retraumatisierung des Opfers und Schritte zur Wiedereingliederung nach der Abwesenheit enthalten. Denn Gewalt am Arbeitsplatz wird sich leider nicht immer komplett vermeiden lassen. Es ist also wichtig, dass das Opfer und seine Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen und Ihr Maßnahmen erarbeitet, die die Betroffenen unterstützen.
Lara Gathmann
An wen man sich in Bremen bei Gewalt wenden kann:
Referat 04 – ADE – Universität Bremen (uni-bremen.de)
Fachberatung – Gewalt gegen Frauen (bremen.de)
Hilfe bei Gewalt | Orangeyourcity Bremen (orangeyourcity-bremen.de)
Psychologische Beratungsstelle Bremen – Suse hilft (suse-hilft.de)
An wen man sich überregional wenden kann:
Antidiskriminierungsstelle – Jetzt Kontakt aufnehmen
BMFSFJ – Hilfe und Beratung bei Gewalt
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