Manchmal gibt es Momente, in denen fühlt man sich bedrängt. Hilflos. Als würde jemand eine Grenze überschreiten. Dabei muss man nicht einmal berührt werden. Eine ganz normale Situation, wie man sie täglich hat, kann plötzlich unangenehm werden. Egal wie stark jemand ist, jeder und jedem kann so ein Moment passieren. Ich erzähle euch heute von meinem:
Meine Geschichte
Ich bin auf der Arbeit. Wir sind ein kleiner Betrieb und ich bin alleine. Die ersten Kunden werden erst in einer Stunde da sein, das weiß ich. So früh bin ich nur, weil ich eine Warenannahme habe. Der Fahrer hat mich bereits angerufen.
Als ich die Tür öffne, stehe ich einem jungen Mann gegenüber, dem Lieferant. Er ist ein gutes Stück größer als ich. Breiter gebaut. Mit einem Lächeln lasse ich ihn herein und schließe das Lager auf, in das er die Sachen bringt. Als ich ihm helfen will, lehnt er die Hilfe ab. Ich müsse nicht so schwer tragen, er mache das schon. Wir unterhalten uns ein wenig. Über seine Firma. Über meine Arbeit. Er fragt mich, wie oft ich da bin und mit einem ironischen Lachen sage ich „Eigentlich immer“. Ich biete ihm eine Cola an. Es ist nett. Er ist nett. Und ich frage mich, ob er mit mir flirtet oder einfach nur nett ist. Mir fällt es manchmal schwer, da eine Grenze zu ziehen. Ist das ein Blinzeln oder ein Zwinkern. Ist das sein Lächeln oder ein Lächeln, dass er sich für bestimmte Menschen aufhebt. Ich weiß es nicht.
Er geht nicht
Seine Arbeit ist getan, doch er geht nicht. Unterhält sich weiter mit mir. Ich lächle immer noch. Er ist nett. Wirklich nett und er tut nichts Schlimmes. Er fasst mich nicht an und er kommt mir nicht zu nahe. Dennoch habe ich das Gefühl etwas sagen zu müssen. Ihm zu sagen, dass hieraus nichts entstehen wird. Dass ich nur nett bin. Aber ich mache mir Sorgen. Denn vielleicht ist auch er nur nett. Und ich käme mir dumm vor, etwas abzublocken, was gar nicht da ist. Ich fühle mich irgendwie hilflos. Ein Gedanke schiebt sich immer wieder in meinen Kopf. Wenn ich das hier jetzt abblocke, könnte er auch falsch reagieren. Und ich bin alleine. Niemand ist da.
Es ist ein dummer Gedanke, den ich oft habe. Den ich immer habe, wenn ich mich bedroht fühle. Ein Szenario in meinem Kopf. Ein Gedankenspiel. Dann schreit jemand „Kämpft!“ und die Welt bleibt stehen. Nur ich gegen diese Person. Ich gegen ihn. Faust gegen Faust. Und ich weiß, dass ich verlieren würde.
Auch in diesem Moment weiß ich, dass ich verlieren würde. Dass er mich am Arm packen könnte und ich nicht die Kraft hätte mich loszureißen. Und dieses Wissen führt dazu, dass ich schweige. Einfach nett lächle und hoffe, dass er bald geht. Irgendwann tut er das auch. Beim Gehen drückt er mir seine Karte in die Hand. Meine Firma könne sich gerne melden. Oder nur ich. Ich hätte ja jetzt seine Nummer.
Ich fühle mich hilflos
Als die Tür ins Schloss fällt, laufe ich ins Büro. Dort sinke ich zu Boden. Meine Beine zittern und ich weiß nicht warum. Denn es ist ja nichts Schlimmes passiert. Oder? Und doch fühlt es sich so an, als hätte er eine Grenze überschritten. Eine unsichtbare Grenze, die er nicht hätte sehen können. Ich mache ihm keinen Vorwurf. Ich mache ihn mir. Ich hätte Stopp sagen können. Müssen.
Doch jetzt ist es vorbei. Ich atme durch, versuche mich unter Kontrolle zu bringen. Mein Handy vibriert. Die Nachricht auf dem Bildschirm ist von ihm. Es steht nur die Nummer da, aber es gibt keinen Zweifel.
>>Danke für die Cola<<
Sofort beginnt mein Herz zu pochen. Es ist kein gutes Pochen. Nicht dieses verliebte Flattern. Ich höre mein Herz so laut, als würde mein Kopf zerspringen. Meine Nummer habe ich ihm nicht gegeben. Er hat sie sich genommen. Seine Firma bekam die Nummer für die Auslieferung. Jetzt benutzt er sie. Ich weiß, dass das nicht okay ist. Es ist nicht legal. Aber ich weiß nicht, was ich tun soll. In meinem Kopf blitzen Ideen auf. Ignorieren. Blockieren. Nein sagen. Antworten.
>>Gerne<<
Mehr schreibe ich nicht und hoffe, dass es damit getan ist. Vorbei ist. Ist es nicht.
Es ist zu viel
Er schreibt mir weiter. Mehr. Sagt mir, dass er mich nett findet. Irgendwann kann ich nicht mehr. Kann nicht mehr so tun, als wäre es okay für mich. Denn bei jeder neuen Nachricht zucke ich zusammen. Und dann benutze ich den Satz, den ich nie benutzen wollte.
>>Tut mir leid, falls ich falsche Signale gesendet haben sollte. Aber ich habe einen Freund<<
Ich lüge dabei nicht. Ich habe einen Freund. Nur ist er nicht der Grund, weswegen ich das hier unangenehm finde. Aber es ist der leichteste Weg. Der wenigste Widerstand. Die kleinste Gefahr, dass mir jemand dumm kommt. Denn dieser Satz funktioniert so gut wie immer. Stärkt meine Grenze. Dabei stuft er mich herab. Denn ich sage nicht nein. Ich sage nur, dass ich schon zu jemandem gehöre. Und es ist verrückt, aber ich habe das Gefühl, das löst oft etwas aus. Als ob das bedeuten würde, dass ich jemandem gehöre. Nicht zu jemandem.
Wie eine Liege am Strand. Und irgendjemand legt ein Handtuch darüber und nun ist die Liege besetzt. Dabei gehört die Liege allen und dennoch. Es scheint ein stilles Übereinkommen zu geben, dass die Liege tabu ist. Das eine Frau tabu ist, wenn sie einen Freund hat. Und es nervt mich, dass ich dieses Übereinkommen unterstütze, es ausnutze und nicht selbst für mich einstehe.
>>Ich habe eine Freundin. Tut mir leid, falls ich falsche Signale gesendet habe<<
Seine Nachricht ist mir unangenehm. Ich habe das Gefühl ihm etwas unterstellt zu haben. Es tut mir richtig leid. Denn er war anscheinend wirklich nur nett. Wollte wirklich nur…
Und dann kam der Satz
>>Was kommst du denn auch so leicht bekleidet zur Arbeit<<
Die Nachricht zieren Lachsmileys, als wäre es ein Witz. Mir ist übel. Und ich bin wütend. Richtig wütend. Denn in diesem Moment bin ich mir endlich sicher, dass mein Gefühl mich nicht getrübt hat. Dass er nicht einfach nur nett war. Er hat eine Grenze überschritten. Meine Grenze.
Ich überlege ihn zu blockieren, aber ich habe das Gefühl, dass er dann gewonnen hat. Macht über mich erlangt hat. Das hat er jetzt schon. Doch ich antworte ihm. Wütend. Sage, dass das nicht geht. Dass bereits das Nutzen meiner Nummer eine Grenze überschritten hat und dieser Spruch einfach nicht in Ordnung ist. Denn ich hätte auch nackt sein können. Es macht keinen Unterschied was ich trage, denn es geht ihn nichts an. Es ist keine Einladung. Keine Entschuldigung.
>>Dann habe ich dich wohl falsch eingeschätzt. Wollte eigentlich nur danke für die Cola sagen<<
Der Emoji verdreht die Augen. Ich bin wütend. Es macht mich wütend, dass er seinen Fehler nicht einsieht, nicht merkt, was er mir damit antut. Was er seiner Freundin zuhause damit antut. Mich macht es wütend, dass er die Schuld bei mir sucht. Weil das keine Art ist mit Menschen umzugehen. Weil Respekt nicht nur ein Wort ohne Bedeutung ist.
Zwei Wochen später sitze ich hier
Und dann sitze ich hier. Zwei Wochen später und denke darüber nach, dass ich kein Einzelfall bin. Dass er kein Einzelfall ist. Solche Dinge geschehen jeden Tag. Überall. Und wir nehmen sie teilweise kaum noch wahr. Wenn mir auf der Straße hinterher gepfiffen wird, tue ich das mit einem Augenrollen ab. Die Männer, die mir zurufen, ich solle ins Auto steigen, ignoriere ich. All das bin ich so gewohnt, dass es für mich normal geworden ist. Und wie kann es normal sein, dass man herabgestuft wird? Wie kann es normal sein als Objekt gesehen, angestarrt ja sogar gegen meinen Willen angefasst zu werden. Warum stehe ich jetzt vor dem Spiegel und traue mich nicht mehr mein Lieblingskleid zu tragen, weil jemand anders es zu kurz findet? Weil ich Angst habe, dass jemand es als Einladung sieht?
Manchmal dauert es einige Sekunden bevor ich realisiere wie dumm dieser Gedanke ist. Und die Kommentare nichts über mich aussagen, sondern über diejenigen, die sie mir nachrufen.
Aber ist das normal?
Eine Frage bleibt dabei zurück und ich komme nicht umhin sie mir immer wieder zu stellen: Ist es normal, als Frau belästigt zu werden? Ganz egal ob körperlich oder nur durch dumme Sprüche. Denn egal wen ich frage, jede Frau kann mir aus dem Stehgreif (nicht nur) eine Geschichte erzählen. Oder sind wir nur sensibel? Denn Belästigung gibt es nicht nur gegen Frauen. Auch Männer, Transsexuelle und Intersexuelle spüren sie. Aber auch dort wird sie klein gehalten. Und ich frage mich wie es sein kann, dass es Belästigung in alle Richtungen gibt und es trotzdem akzeptiert wird. Wie es normal werden konnte, den Körper fremder Menschen zu kommentieren und zu berühren. Warum es okay ist diese Grenze zu überschreiten.
Oder war es vielleicht immer schon so? Die Frau dem Mann untergestellt und nur ein Objekt. Ist es das, was hängen geblieben ist? Was so verankert ist in unseren Köpfen, dass wir es nicht mehr hinterfragen? Es gibt nicht genug Worte, um das Gefühl zu beschreiben, das mich bei diesem Gedanken übermannt. Zahlreiche Erlebnisse, mit denen wir tagtäglich konfrontiert sind. Wenn wir wollten, könnten wir ganze Bibliotheken nur mit unseren Erfahrungen füllen.
Was heißt das jetzt?
Ich wünschte, es gäbe eine Antwort auf diese Frage. Die Möglichkeit einer Komplettlösung gegen Belästigung. Aber die gibt es nicht. Wichtig ist, dass wir uns daran erinnern, dass wir nicht die Schuld tragen. Dass wir es nicht verdient haben, nur weil die Hose ein Stück kürzer ist und der Ausschnitt ein wenig tiefer. Uns gegenseitig zu unterstützen und zu zeigen, dass wir nicht allein sind. Wir können unsere Geschichten teilen. Ganz egal wie unwichtig sie in unseren Köpfen wirken. Denn wir müssen das nicht hinnehmen.
Und wenn wir den Mut fassen, können wir zurückschlagen. Sagen was uns nicht passt. Uns nicht alles gefallen lassen. Denn das müssen wir schon lange nicht mehr.
Shona
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