Triggerwarnung: Der Text handelt von sexualisierter Gewalt und kann Traumata hervorrufen.
„In der Zeitung lautete mein Name: ‚bewusstlose, betrunkene Frau‘, neun Silben, nicht mehr.“
Sommer 2015. Das imposante Gelände der renommierten Stanford-Universität. Die Party einer Studentenverbindung. Viele Menschen, die trinken, lachen und eine gute Zeit haben. Bis auf eine junge Frau, die bewusstlos hinter den Müllcontainern liegt, während der Student Brock Turner sie vergewaltigt.
Emily Doe und Chanel Miller
Sie entschließt sich zu einer Anzeige, es kommt zum Prozess, der sich lange Zeit zieht, und zu einem äußerst unerwarteten Strafmaß.
Während der gerichtlichen Verhandlungen zum Schutz ihrer Anonymität noch Emily Doe genannt, entschließt sich die junge Frau im Jahre 2018, ihre Autobiografie mit dem Titel „Ich habe einen Namen“ zu veröffentlichen. Erstmals offenbart sie darin ihren tatsächlichen Namen:
Chanel Miller.
Täter gegen Opfer
Mal sanftmütig, mal zynisch, mal schonungslos ehrlich berichtet Miller darin von ihren Erfahrungen als Vergewaltigungsopfer, als Anklägerin, als Überlebende, als Kämpferin. Was sie jedoch schreibt, ist oft nur schwer zu verdauen. Demütigende Gerichtsverhandlungen, ein parteilicher Richter, keine einzige aufrichtige Entschuldigung, die ständigen Schuldzuweisungen. Für all das findet Chanel Miller glasklare und eindringliche Worte, von Wut oder Trauer oder beidem geprägt, wenn sie schreibt:
„Zu seiner Geschichte gehörten seine Kindheit, seine Bildung, seine Sommerferienjobs, seine fürsorglichen Beziehungen. Meine Geschichte dagegen bestand aus Filmriss eins bis fünf.“
Glaubwürdigkeit
Tatsächlich wecken die Schilderungen Millers, wie sie vor Gericht sowohl von Brock Turners Verteidigung als auch letztendlich vom Richter behandelt worden ist, bei den Leser*innen große Wut. Millers komplette Glaubwürdigkeit wird angezweifelt, wenn sie sich nach fünf Monaten nicht mehr erinnern kann, ob sie am Abend des Übergriffes Reis oder Quinoa gegessen hat. Obgleich es verboten ist, die sexuelle Vergangenheit von Opfern vor Gericht zu thematisieren, wird sie zu ihrer Beziehung, Monogamie und ihrem Sexleben ausgefragt. Turner sagt aus, sie zum Orgasmus gebracht zu haben.
Doch warum genau läuft dieser Gerichtsprozess zwischen Miller und Turner so unfair und demütigend ab?
Vorurteile
Dafür gibt es neben dem generell herrschenden Sexismus zwei spezifische Gründe. Zum einen Millers Zustand während der Vergewaltigung und zum anderen Turners soziales Umfeld.
Sie war betrunken und bewusstlos. Eine Frau in einem Kleid mit zu viel Alkohol im Blut.
Er war ein Stanford-Stipendiat. Spitzensportler aus gutem Hause, jung und reich und weiß.
Und er sagt vor Gericht aus, die Penetration mit seinen Fingern habe einvernehmlich stattgefunden.
Victim-Blaming
Aufgrund der außergewöhnlichen Umstände und der Bekanntheit des Täters gewinnt der Fall rasch mediale Aufmerksamkeit und Miller erfährt, wie viele Menschen ihr die (Mit-)Schuld an dem Übergriff geben.
Was erwartest du bei Verbindungspartys?
Trink nächstes mal einfach weniger.
Bleib doch bei deinen Freundinnen.
Warum gehst du auch alleine raus?
Auf all diese victim-blaming-Aussagen erwidert Chanel Miller ganz nüchtern:
„Manchmal denke ich, wenn ich nicht mitgekommen wäre, wäre es nie geschehen. Aber dann wird mir klar, dass es trotzdem passiert wäre, nur wäre es jemand anderem widerfahren.“
Retraumatisierung
Viele sehen Chanel Millers Buch als Kampfansage, als Hoffnungsschimmer, doch es ist nicht nur das. Zutiefst verletzt durch die lediglich sechsmonatige Strafe, welche sich letztendlich auf nur drei Monaten Haft beläuft, schreibt Chanel Miller an alle Opfer sexualisierter Gewalt:
„Für euch existiert kein System. Die Qualen des Prozesses sind es niemals wert. (…) Es war nicht bloß ein schlechtes Strafmaß. Das hier war das beste, was jede von uns sich erhoffen konnte.“
Und tatsächlich hinterlässt die Lektüre ihres Buches bei mir einen bitteren Beigeschmack. Wer von uns würde seine*ihre Vergewaltigung anzeigen? Wer würde es riskieren, dass seine*ihre ganze Familie belastet werden würde? Wer würde sich der Gefahr einer Retraumatisierung aussetzen? Wer würde in einem Gerichtssaal voller Fremden über Orgasmen befragt werden wollen?
Zusammen sind wir laut
Chanel Millers Buch ist tapfer und mutig und unfassbar wichtig, zweifelsohne. Es zeigt, dass wir nicht allein sind, dass wir viele sind, und dass wir gemeinsam laut sein können, dass wir alle Namen haben und dass sie alle zählen. Es zeigt jedoch auch, dass wir bei diesem Kampf noch lange nicht am Ende sind, und dass es ein harter, steiniger Weg wird. Ein Weg, für den nicht jede*r die Kraft haben wird.
Franka Billen
Chanel Miller – Ich habe einen Namen:
Ullstein-Verlag
ISBN: 9783550200809
Hardcover, 480 Seiten
Du brauchst Hilfe? Das Hilfetelefon Sexueller Missbrauch kannst du bundesweit, kostenlos und anonym anrufen: 0800 2255530. In Bremen kannst du ebenfalls ohne Gebühren und anonym den Notruf Bremen anrufen: 0421 15181
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