Osman Engels studiert Cello. Doch es will nicht so recht laufen im Moment, nicht nur mit der Musik. Wo sein Lehrer einen Nieselregen hören will, liefert Osman ein Gewitter, wo seine Mitbewohnerin Nähe sucht, verharrt er in unbeholfener Schreckstarre. Auch mit seiner Familie sieht es nicht rosig aus. Seine Mutter ist vor langer Zeit schon abgehauen und hat die Kinder bei Vater Suat und Tante Elide zurückgelassen. Ausgerechnet jetzt stellt Elide wieder Ansprüche an ihren Neffen: Suat, ebenfalls Musiker, hat sich das Handgelenk gebrochen, leidet an einem Tinnitus, ihm droht die Arbeitslosigkeit. Elide soll es richten und Osman ihr helfen. Von alldem völlig überfordert, zieht Osman sich von allen und allem zurück.
Dafür fühlt er sich immer stärker einer Frau verbunden, die er überhaupt nicht kennt und die von seiner Existenz nichts weiß. Am Bahnhof findet er ein Diktiergerät, darauf Aufzeichnungen von einer Reise, die eine gewisse Ella mit ihrer gehörlosen Schwester unternommen hat. Auch hier spielt das Hören eine sehr große Rolle, vor allem in der Frage, ob die Schwester sich ein Cochlea-Implantat einsetzen lassen möchte, weil die Hörenden es ihr so schwer machen, keine von ihnen zu sein.
Mevissen lässt ihren Protagonisten in der ersten Person erzählen und noch dazu im Präsens, völlig unmittelbar. Passend dazu ist auch sein Erzählstil eher umgangssprachlich geprägt und nicht bis ins letzte Detail ausformuliert. Manchmal fehlen Wortendungen oder gleich ganze Worte, Sätze enden im Nichts und beginnen dann wieder neu. Das alles liest sich so, als würde Osman es einem selbst erzählen – oder eben auf ein Diktiergerät sprechen. Seine Offenheit dabei ist entwaffnend.
„Ich weiß nicht, wie man das macht, über Familie sprechen, über Vergangenheit, über irgendetwas wirklich sprechen.“
Hören und Gehörtwerden
Zusammengehalten wird der Roman vom Leitthema des Hörens. Ein ganz deutlicher Fokus liegt natürlich auf der Musik (der Roman hat sogar seine eigene Spotify-Playlist), die für Osman Lebensinhalt und Qual zugleich ist. Andere im Roman hören gar nichts oder zu viel – im Falle von Vater Suat ein nervtötendes Fiepen, das einfach nicht verschwinden will. Und sie alle kämpfen damit, sich Gehör zu verschaffen, ihren Gefühlen eine Form zu geben, die für andere wahrnehmbar ist und vielleicht sogar verständlich.
Mevissen gelingt es, durch dieses zentrale Thema den Roman gut zusammenzuhalten. Mit dem Stil allerdings hatte ich an einigen Stellen zu kämpfen. Einige Passagen werden nicht von Osman, sondern von anderen Charakteren erzählt, ebenfalls in Ich-Form. Das ist natürlich ein verbreitetes und gut funktionierendes Stilmittel, in diesem Roman aber fand ich es ein wenig hölzern und nicht immer gut eingebunden. Auch die Idee mit dem Diktiergerät funktioniert im Kern gut, holpert allerdings an einigen Stellen, besonders die wiederholten Passagen erfüllen nicht immer ihren Zweck. Das alles ändert aber nichts daran, dass es Mevissen in ihrem Debüt gelingt, das grundlegende Thema des Romans vielfältig und interessant zu beleuchten. Vor allem Musikliebhaber*innen und erst recht begeisterte Musiker*innen dürften Freude an diesem Roman haben.
Katharina Mevissen: Ich kann dich hören. Wagenbach 2018. Gelesen in der eBook-Ausgabe (140 Seiten), lieferbar auch als Hardcover.
Das Zitat stammt von S. 113.
Dieser Roman war auf der Shortlist von Das Debüt 2019.
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