In ihrem Debütroman „Oh Sunny“ erzählt Ta-Som Helena Yun die Geschichte von Sunny: die 26-Jährige lebte lange auf Autopilot, versuchte, allen Erwartungshaltungen gerecht zu werden, bis ein Streit mit ihren Eltern das Fass zum Überlaufen bringt und sie kurzerhand in die Turnhalle eines koreanischen Kulturvereins flieht.

Zwischen Trampolinen und Medizinbällen findet sie sich in einer Identitätskrise wieder. Als in Deutschland geborenes Kind koreanischer Eltern stellt sich Sunny die Frage nach ihrer Zugehörigkeit. Sie sieht sich mit ihrer Vergangenheit konfrontiert und versucht, ihr Leben und ihre Probleme in die Hand zu nehmen. Es geht um Schuld, Scham und Schweigen, um Einsamkeit und Freundinnenschaft, um Trauer, Trauma und Rassismus.

Ta-Som Helena Yun ist Richterin in Berlin und hat „Oh Sunny“ im Rahmen einer berufsbegleitenden Autor*innenausbildung geschrieben. Sie würde selbst gerne mal in einer Turnhalle leben und ist der Ansicht, man brauche mindestens 200 Seiten, um eine Emotion zu beschreiben. Vor ihrer Lesung bei „NEUland – Autor*innen von morgen“ im Kukoon, Bremen, durfte ich Ta-Som zu ihrem Roman interviewen.
frauenseiten: Wie hast du begonnen, Sunnys Geschichte zu entwickeln?
Ta-Som: Mir fiel es immer schwer, mir eine Geschichte einfach linear vorzustellen. Deshalb habe ich einfach Charaktere entwickelt. Und dann war da eben eine Person, die irgendwie versucht, sich selbst zu behaupten und dabei andauernd irgendwo aneckt. Eine, die gleichzeitig Schwierigkeiten hat mit einer Abtreibung. Das war dann meine allererste Frage: Was passiert mit einer Person, die in ihrer Jugend eine Abtreibung hat, dieses Geheimnis mit sich herumträgt und deshalb nicht so richtig aus sich heraus kann, sich nicht mehr selber vertraut?
Als ich dann mein Thema mit der Abtreibung vorgestellt hatte, haben mir sehr viele aus dem Schreibkurs gesagt, dass sie nicht glauben, dass man das Buch lesen möchte. Sie meinten, das Thema sei schon abgefrühstückt, Abtreibung sei einfach kein Thema mehr. Und da war auch die erste Reaktion: „Liegt das vielleicht daran, dass du aus Korea kommst? Hast du nicht mitbekommen, dass das hierzulande kein Thema mehr ist?“ Das hat mich geärgert. Wir wissen ja, dass man abtreiben kann. Wir wissen aber auch, dass dieses Recht super fragil ist, man will es uns auch immer wieder nehmen. Und wir sprechen nicht genug drüber, es ist immer ein kleines Geheimnis, eines, das oft mit Scham verbunden ist. Ich finde, da müssen wir uns weiterentwickeln. Wenn wir nicht darüber sprechen, machen wir damit total viele Menschen mundtot und nehmen deren Gefühle nicht ernst. Ich hatte beim Schreiben des Buches nicht unbedingt eine klare Intention, aber wo ich so nachdenke, wünsche ich mir, dass „Oh Sunny“ dazu beiträgt, dass man merkt: man ist nicht allein damit.

frauenseiten: Wie hast du denn die Charaktere entwickelt? War das viel Recherche, oder steckt auch etwas von dir in ihnen?
Ta-Som: Ich glaube, sie sind einfach sehr nachvollziehbare Personen. Ich habe versucht, diversere koreanische Backgrounds reinzubringen. Deshalb habe ich eine Studentin und eine, die hier in Deutschland gewohnt hat, dann nach Korea gegangen ist und wieder zurückgekommen ist. Das ist auch meine Biografie. Und ich habe gemerkt, das ist nicht nur meine Geschichte. Ich habe diese Parallele häufig gesehen. Und dann gibt es viele, die Einwandererkinder sind, Kinder von der Gastarbeiterwelle. Ich habe einfach mit vielen einfach gesprochen.
Ich glaube ohnehin, egal in welchem Land man geboren wird oder welche Eltern man hat: Man ist ein Kind der ganzen Zeit. Zum Beispiel Sunny: Sie kann sich nicht loslösen von der Geschichte Deutschlands, weil sie da geboren und aufgewachsen ist, sie kann sich aber auch nicht loslösen von der Geschichte, die ihre Eltern mit sich hergebracht haben. Ich habe versucht, diese Einbettung klarzumachen, die ja auch echt erdrückend ist, gerade in so einem Alter, wenn man sich gerade versucht zu befreien.
frauenseiten: Beim Lesen wollte ich oft einfach zu Sunny gehen, sie schütteln und sagen: „Rede doch bitte mit jemandem! Damit dich jemand versteht und dir helfen kann!“ Gibt es irgendwas, was du Sunny gerne sagen würdest, wenn du sie heute in der Turnhalle treffen würdest?
Ta-Som: Ja, aber du hast mir schon quasi die Worte aus dem Mund genommen. Gerade am Anfang redet Sunny einfach nicht und das macht einen total fertig. Mich hat es beim Schreiben auch fertiggemacht. Ich glaube auch, dass man, wenn man seine eigene Identität herausfinden will oder sich selber irgendwo in der Gesellschaft verorten will, dass man das einfach braucht, dieses Miteinandersprechen. Sich mit anderen auseinanderzusetzen und dann in der Auseinandersetzung auch mehr über sich selber herauszufinden und Hilfe zu bekommen, sich aufgefangen zu fühlen. Ich wollte auch sehr viel über Freundinnenschaft sprechen. Es gibt meines Erachtens keine ideale Freundschaft, aber die Freundschaft, die wirklich wertvoll ist, ist eine, die ein Auffangnetz bildet. Ich hoffe, dass Sunny im Laufe ihrer Zeit dann gemerkt hat, dass es dieses Auffangnetz gibt.
frauenseiten: In deinem Buch spricht Sunny von Themen, die wie Minenfelder sind. Abtreibung ist wahrscheinlich eines davon. Welche Bomben wolltest du noch in „Oh Sunny“ entschärfen?
Ta-Som: Ja Abtreibung, Frauenrechte, Alltagsrassismus oder grob gesagt auch Diskriminierung. Ich denke, da wollen die meisten Leute eigentlich alles richtig machen. Dann gibt es aber diese althergebrachten Vorstellungen und auch das System, in dem wir leben. Ob man es jetzt richtig machen will oder nicht, man tritt ständig irgendwie in Fettnäpfchen, ich auch. Und gepaart mit Cancel Culture, von der man sich fragen kann, ob es sie wirklich gibt, aber: Wie viel Toleranz zeigt man oder nicht? Ich glaube, das sind alles Minenfelder. Die erste Verletzung ist, wenn man Opfer von solchen systematischen Diskriminierungen wird. Das Zweite ist dann, wenn jemand es eigentlich nicht machen wollte, aber es dann doch getan hat. Das ist auch eine Art Verletzung, die man erlebt, und darüber, finde ich, kann man schwer richtig sprechen.
frauenseiten: Sunny stellt sich ja auch an einem Punkt die Frage: „Ist man eigentlich nur ein gutes Opfer, wenn man auch ein Engel ist?“ Und ich fand, das hat man auch bei ihr gesehen. Ihr ist ja so viel passiert, man hat so viel Mitleid. Aber gleichzeitig schreit sie rum und bewirft Leute mit Erbsen. Sie ist kein Engel, sondern sie ist einfach realistisch. Wie hast du sie so realistisch geschrieben?
Ta-Som: Ja, es gibt viel mehr Erzählungen von Opfern, die wirklich klassische Opfer sind, die sind dann irgendwie hilflos. Und das ist aber ja nicht so, wenn einem was passiert, ist man auch wütend. Gerade wir Frauen lernen aber immer, unsere Wut anders zu überdecken, und dann sind wir traurig oder irgendwie lethargisch, depressiv, aber zeigen keine Aggressionen. Ich glaube, dass wir durch diese Erzählweise viele Menschen dazu bringen, sich selbst zu gaslighten. Soweit, dass sie selber nicht mehr wissen: Bin ich eigentlich Opfer? Und das führt dazu, dass Menschen sich dann selber das Recht zum Aufbegehren oder für sich selbst einzustehen, nehmen. Anfangs ist Sunny ja auch so, aber ich habe dann versucht, eben diese Auseinandersetzung zu beschreiben, weil wir damit den Menschen eben sehr viel Unrecht tun.
Das Interview führte Lisann P.
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