Bin ich normal? Das fragen sich viele, wenn es um die eigene Sexualität geht. Denn obwohl Sex omnipräsent ist, für einen offenen Diskurs fehlt noch viel.
Das Verständnis von ‚gutem‘ Sex oder ’normaler‘ Sexualität ist immer noch stark von Klischees besetzt und hat oft kaum Überschneidungspunkte mit der Realität. Über die eigenen Bedürfnisse und Probleme wird nur selten gesprochen. Wie wir das ändern können, darüber schreiben die Autor*innen des Buches „Ist das normal? – Sprechen wir über Sex, wie du ihn willst“.
Zwischen Ratgeber, Sachbuch und Selbsttherapie
„Nicht irgendein Sexratgeber, sondern dein ganz persönliches Sexbuch“. Dieser Satz, der sich bereits im Vorwort liest, trifft den Kern des Buches tatsächlich auf den Punkt. Denn was das Buch ausmacht, ist der Fokus auf dem Hinterfragen von eigenen Klischees zum Thema Sexualität. Es geht also nicht darum, die Leser*innen zu dem unerreichbaren Ideal eines perfekt funktionierenden Sexleben zu verhelfen, bei dem beide Partner*innen immer gleich viel Spaß haben, sich wortlos verstehen, und das am besten noch durchschnittlich 2,5 Mal die Woche. Sondern herauszufinden, was ein erfüllendes Sexleben für eine*n selbst bedeutet.
Das Autor*innen-Team hat bereits einen weitgefächerte Erfahrungsschatz, was die Vermittlung wissenschaftlicher Inhalte und die Reflektion über Sexualität angeht. Sven Stockrahm, stellvertretender Ressortleiter Wissen und Digital bei ZEIT ONLINE, und Alina Schadwinkel, Wissenschaftsjournalistin, führen mit der Sexualtherapeutin Dr. Melanie Büttner bereits seit 2017 den Podcast „Ist das normal?“. Basierend auf diesen Erfahrungen haben sie nun das gleichnamige Buch veröffentlicht. Die breite fachliche Bandbreite der Autor*innenschaft macht das Buch so facettenreich und verortet es irgendwo zwischen Sachbuch und Therapiestunde.
Dabei ist das Buch sehr leicht zu lesen. Eingeblendete Fragen von anonymisierten Patient*innen und Podcasthörer*innen helfen, komplexe Fragen wie „Was ist guter Sex?“ erfahrbarer zu machen. Trotz dieses Fokus auf der subjektiven Erfahrung ist das Buch sehr informativ. Während Infoboxen zu Themen wie „Geschlechtskrankheiten“ Aufklärungsarbeit bieten, ermöglichen verständlich aufgearbeitete Forschungsergebnisse eine gesamtgesellschaftliche Perspektive. Und auch an Denkanstößen, Tipps für feministische Pornografie und Ideen wie man mit dem/der Partner*in die eigenen Bedürfnisse besprechen könnte, mangelt es nicht.
Wir müssen über Sex reden
Was als normal begriffen wird, ist nicht naturgegeben, sondern wird gesellschaftlich konstruiert. So unumstößlich uns gesellschaftliche Vorstellungen von Normalität vorkommen, so sehr zeigt sich ihre Fragilität, wenn wir den Blick auf andere zeitliche Räume oder Kulturen werfen. Doch nur indem wir das „Normale“ hinter uns lassen, werden wir uns unseren eigenen Bedürnissen bewusst.
Vorstellungen von „normaler Sexualität“ sind somit immer in Frage zu stellen. Besonders in einer Gesellschaft, in der Sexualität vordergründig so frei wie noch nie vorher praktiziert wird, die eigenen Bedürfnisse jedoch oft keinen Raum finden. Dieses Problem kennen vor allem Frauen. Laut einer amerikanischen Studie ist jede sechste Frau überzeugt, kein Recht zu haben, den Sex zu unterbrechen.
Fest steht: Sexualität muss offener besprochen werden, frei von Klischees und Rollenbildern, die uns antiquierte Vorstellungen von Männlichkeit oder Pornos vorleben. Dass Sexualität mehr ist als die Penetration von Penis und Vagina, und nicht ausschließlich einen Orgasmus zum Ziel haben muss. Dass man beim Sex nicht verstummen muss und über die eigenen Empfindungen genauso offen kommuniziert werden muss wie über die Frage, was es zum Abendessen gibt. Hierfür muss aber jede*r Einzelne ihren Beitrag tun, die eigenen Vorstellungen hinterfragen und offen für andere Auffassungen und Bedürfnisse sein. Das Buch „Ist das normal?“ bietet hierfür spannende Denkanstöße.
Pia Reiter
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