„Den Gedanken, dass im Libanon eine ganze Generation ohne Schulbildung heranwächst und zwar die, die das Land danach wiederaufbauen soll, nach dem Krieg, fand ich so nicht haltbar“
Wie wichtig Schule und Bildung ist war Jacqueline Flory schon früh bewusst. Die Münchnerin baut im Sommer 2016 die erste Zeltschule im Libanon. Ihr Ziel: Syrischen Flüchtlingskindern im Libanon und in Syrien einen Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Damals wusste sie noch nicht, wohin dieses Projekt einmal führen wird. „ […] Das hat unglaublicherweise geklappt. […] Meine Intention war eigentlich, eine Schule zu bauen und auch [langfristig] erhalten zu können […].“ Jacqueline Flory gibt Tausenden Flüchtlingen die Chance auf ein würdevolles Leben – mit Bildung, Workshops und Programmen – und versucht somit die Ungerechtigkeiten des Krieges zu bekämpfen. Für ihre beachtenswerte Arbeit auf diesem Gebiet erhielt Sie am 20. Mai 2022 den Internationalen Bremer Friedenspreis und wir hatten die Chance auf ein Gespräch mit ihr.
(c) Zeltschule e.V.
Seit 2011 dauert der Bürgerkrieg in Syrien schon an und es ist kein Ende in Sicht. „[…] es kommen nach wie vor neue Geflüchtete in den Libanon, weil ja auch im Norden von Syrien nach wie vor Bombardierungen sind. Also der Flüchtlingsstrom ist vielleicht etwas schwächer geworden aber definitiv nicht gerissen“ sagt Flory dazu. Bisher sind fast 7 Millionen Syrer*innen geflüchtet: in die Türkei, nach Jordanien aber auch in den Libanon. Flory hat es sich zur Aufgabe gemacht, diesen Menschen zu helfen und gründete den Verein „Zeltschulen e.V.“. „ [Es] gab aber auch nicht wirklich effektive Initiativen, die dafür gesorgt hätten, dass sie in ihrer Region würdevoll das Kriegsende abwarten können. Und deswegen entstand die Idee, in den Camps Schulen zu bauen, damit die Kinder ausgebildet werden können“.
Was ist eine Zeltschule überhaupt?
Was bei einer einzigen langfristig bestehenden Schule bleiben sollte, wurde zu 41 Schulen im Libanon (Bekaa-Ebene) und in Syrien. Dort folgen die Kinder einem geregelten Tagesplan: „Also Schulalltag bedeutet: Jedes Kind wird vier volle Stunden unterrichtet und die Jüngsten werden morgens von 7-11 Uhr unterrichtet, die Mittleren am Nachmittag ab 12 Uhr und die Ältesten werden dann am Abend ab 17:Uhr unterrichtet.“ Je nachdem wie groß die Camps sind, sind die Zeltschulen selbstverständlich auch anders aufgebaut, um den Anforderungen gerecht werden zu können. Jacqueline Flory erklärt uns im Interview wie solche Zeltschulen aussehen:
„Unsere allererste Schule, die Giraffen-Schule, hat 30 Quadratmeter, besteht aus einem Klassenzimmer und steht in einem Camp, was aus 55 Zelten besteht. [Das Camp besteht] also aus 55 Familien, und hat [seitdem] ungefähr 120 Kinder im Schichtbetrieb unterrichtet […]. […] Es gibt aber Camps in ganz unterschiedlichen Größen im Libanon. Es gibt keine solche Riesencamps, wie man sie aus Jordanien kennt, […] wo 150.000 Menschen leben, sondern es gibt ganz viele kleine, wilde Camps, die von niemandem betreut werden, zwischen 15-20 Zelten und aber auch 200-300 Zelten. Also unsere kleinste Schule ist immer noch die Giraffen-Schule und unsere größte Schule ist die Kamel-Schule, die unterreichtet jeden Tag 600 Kinder in 6 Klassenzimmern. Ist aber auch ein Zelt.“
Wie hilft man weiblich gelesen Menschen?
„Wir haben verschiedene Fördergruppen auch für Erwachsene, besonders für Frauen, Mädchen und Jugendliche, weil es ein großes Problem ist tatsächlich, dass Mädchen, wenn sie mit der Schule fertig sind, dann mit 14 oder 15 eben [sofort] verheiratet werden […].“ Durch verschiedene Programme und Initiativen hilft Zeltschule e.V den Menschen vor Ort, ein würdevolles Leben aufzubauen. Nicht nur helfen die Fördergruppen den Geflüchteten, selbständig zu werden, sondern sie helfen auch bei der Verarbeitung von Traumata. „[…] das wird auch sehr gut aufgenommen, weil die Frauen dabei auch gemeinsam in einem Zelt sind und gemeinsam handarbeiten und das hat […] eine sehr therapeutische Wirkung auf die Frauen. Weil viele eben auch sehr traumatische Erlebnisse auf der Flucht gehabt haben und das einfach so ein sicherer Raum ist, in dem sie sich austauschen können.“
Schnell wurde erkannt, dass Frauen und Mädchen gezielt unterstützt und gefördert werden müssen, denn „wenige Dinge beeinflussen den Kampf der Frauen um Emanzipation so stark wie ein Krieg“ sagt Jacqueline Flory.
(c) Zeltschule e.V.
„Also mit INVICTA haben wir 2017 angefangen, weil uns sehr schnell bewusst geworden ist, wie schlimm eben die Situation für Frauen und für Mädchen ist, und in was für einer Gefahr sie sich im Libanon speziell befinden, weil sie unter keinerlei juristischem Schutz stehen. Also der Libanon hat sowieso ein völlig chaotisches Rechtssystem, weil jede der 17 staatlich anerkannten Religionen im Grunde eine eigene Gesetzgebung hat. Wenn Frauen auf der Straße vergewaltigt oder getötet werden, denn hätte das keinerlei Folgen für den Täter. […] Das führt dazu, dass die meisten Mädchen und Frauen einfach die Camps nie mehr verlassen […]. Und deswegen war uns schon früh klar, dass wir dringend diese Frauen fördern müssen […]“ erzählt uns Flory.
Anknüpfend an das INVICTA-Programm hat die Zeltschule auch die Independent-Girl-Kampagne gegründet, um einer Zwangsverheiratung aus dem Weg zu gehen. „Dann haben wir die Alphabetisierungskurse für die Frauen. Ungefähr ein Drittel der Frauen in unseren Camps hat nie Lesen und Schreiben gelernt. Da gibt es ein großes Stadt-Land-Gefälle in Syrien, was den Bildungsstand betrifft.“ Durch solche Programme und Kampagnen wird Frauen ein Stück Unabhängigkeit und Selbstständigkeit gegeben, die sie unter „normalen“ Umständen nicht hätten.
Doch das war nicht alles, denn die Zeltschule hat außerdem sogenannte „Women’s Workshops“, wo „Frauen und Mädchen die Berufe, die Handarbeit, [nahgebracht werden].“ Denn in Ländern wie dem Libanon oder in Syrien kann das Erlernen der Handarbeit zum Überleben beitragen. Handarbeit hat einen ganz anderen Stellenwert als beispielsweise in Deutschland. „Da werden Handtücher und Laken nicht einfach gekauft, sondern die lässt man machen. Und wenn man eben jemand ist, der sowas machen kann, dann kann man seinen Lebensunterhalt damit bestreiten.“
Wir müssen helfen
Die Arbeit, die Jacqueline Flory und ihr Team der Zeltschule machen, ist essentiell. Für die Mehrheitsgesellschaft in Deutschland ist es nicht vorstellbar wie es ist, im Krieg zu leben. Das Mindeste, was man machen kann, ist helfen, denn Millionen Menschen in Not leiden. Während viele in Europa sich, nachdem die Nachrichten des Krieges aus den Zeitungen verschwinden, damit nicht mehr beschäftigen, macht Jacqueline Flory das nicht. Und wir müssen sie als Vorbild nehmen. „Also, dass den Leuten einfach bewusst wird, dass es nicht nur die Ukraine gibt. […] Ich glaube, dass es ein gesellschaftliches Problem ist, dass wir uns immer nur auf eine Krise fokussieren. Als wären wir gar nicht bereit, uns mehreren Dingen gleichzeitig zuzuwenden, aber das werden wir müssen in einer immer komplexer werdenden Welt.“
Die Medien haben einen erheblichen Einfluss darauf, mit welchem Themen wir uns befassen. So perfide es auch klingt: Krisen werden nur so lange thematisiert, wie man auch durch sie profitieren kann. Es ist wie Flory sagt, ein „mentales Katastrophen-Hopping“.
(c) Zeltschule e.V.
Der Syrien-Konflikt wird in absehbarer Zeit nicht enden, das bedeutet, es werden mehr Menschen flüchten und Geflüchtete werden nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren können. „Und was dazu kommt ist, dass niemand zurück kann, nach Syrien. Es gibt keine Fluktuation, keinen Austausch. […] Die Zahlen bleiben konstant und es ändert sich nur in wer sich gerade in dem Land befindet. Aber es ist nach wie vor so, dass die Geflüchteten, die im Libanon sind, zu 90 Prozent aktenkundig geworden sind in Syrien, als Widerständler, und sofort bei ihrer Rückkehr verhaftet würden. Somit müssen sie im Libanon bleiben.“ fügt Jacqueline Flory hinzu.
Es muss diesen Menschen ein würdevolles Leben gegeben werden. Solche Krisen können überwältigend wirken und wenn mensch so weit davon entfernt ist, ist es einfach, solche Ereignisse auszublenden. Doch das muss aufhören. Hilf, wenn Du kannst. Spende, unterstütze Projekte, gründe Projekte, nimm Geflüchtete auf, hilf ehrenamtlich in Flüchtlingslagern, und so weiter. Es gibt viele Möglichkeiten zu helfen. Es ist wichtig, zu realisieren, dass man laut werden kann dass deine Stimme zählt, auch wenn es manchmal so wirkt, als würde eine*r*m niemand zuhören!
Lina, Eman, Imke
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