Dass die binäre Unterscheidung in Mann und Frau in unserer Gesellschaft überholt ist und wir versuchen müssen, die existierenden Stereotype aufzubrechen, wird medial diskutiert und politisch verhandelt.
In Deutschland muss man seit 2018 keines der beiden Geschlechter mehr in den Personalausweis eintragen lassen, sondern kann sich unter anderem für die Möglichkeit „divers“ entscheiden. Hier hat eine erste Verbesserung für Menschen mit trans- und intergeschlechtlicher Identität stattgefunden. Ein Bereich, in dem die zweiteilige Trennung der Geschlechter jedoch immer noch sehr stark vorherrscht, ist der Sport. Unumstritten gibt es biologische Unterschiede der Menschen, die ihre sportliche Leistungsfähigkeit beeinflussen und dazu führen, dass Menschen mit dem männlichen sex in vielen Sportarten höhere Leistungen bringen als Menschen mit dem weiblichen sex (in den gender studies wird Geschlecht mit sex und gender beschrieben, wobei sex das biologische Geschlecht und gender das soziale Konstrukt Geschlecht beschreibt). Daher macht die Unterscheidung vordergründig Sinn: Ohne die Kategorie „weiblich“ würden Frauen im Leistungssport nicht auftauchen. Natürlich gibt es auch hier Ausnahmen: In der damals gemischten Disziplin Wurfscheibenschießen traten Frauen und Männer gegeneinander an – bis 1992 überraschend Zhang Shan als erste Frau gewann. Im Anschluss wurden Frauen vom Wettbewerb ausgeschlossen.
Natürliches Testosteron als leistungssteigerndes Mittel
Eine große Rolle für die körperlichen Unterschiede spielt das Hormon Testosteron, das das Motivationspotenzial erhöht und dazu führt, dass schneller Muskelmasse aufgebaut werden kann. Menschen mit hohem Testosteronwert werden langsamer müde, können also nicht nur im Wettbewerb, sondern auch im Training mehr Leistung erbringen; alles in allem bedeutet ein höherer Testosteronwert also einen klaren Vorteil für Sportler und Sportlerinnen. Testosteron tritt in hoher Menge bei Menschen mit männlichem sex auf, 95 Prozent der Frauen haben einen Testosteronspiegel niedriger als drei, bei 95 Prozent der Männer liegt der Testosteronwert über sieben Nanomol pro Liter.
Der Fall Caster Semenya: Eine Verliererin der Kategorie Geschlecht
Im Fall der südafrikanischen Mittelstreckenläuferin Caster Semenya wurde ihr Testosteronwert ihr zum Verhängnis: Die mehrfache Olympiasiegerin und Weltmeisterin auf der 400 und 800 Meter Laufstrecke wurde 2019 aufgrund ihres hohen Testosteronwerts vom Wettbewerb ausgeschlossen. Das Internationale Sportgericht verabschiedete auf Basis ihres Falls eine Regeländerung: der neue Grenzwert für Frauen in den Mittelstrecken-Wettbewerben von 400 Metern bis eine Meile liegt nun, gesenkt von den vorherigen zehn Nanomol pro Liter, bei fünf Nanomol Testosteron pro Liter Blut. Caster Semenya hat einen höheren Wert; sie wird in der Folge als intersexuell klassifiziert. Damit wird ihr nicht nur ihre sportliche Wettbewerbsteilnahme und damit die Ausübung ihres Berufes abgesprochen – zusätzlich wird ihre Weiblichkeit hinterfragt und somit ihre persönliche Identität angegriffen. Das internationale Sportgericht gesteht hier, dass der Ausschluss Semenyas (und weiterer intersexueller Sportler*innen) diskriminierend ist – doch sie wissen sich nicht anders zu helfen, um „die Integrität der Frauen-Leichtathletik in den eingeschränkten Wettbewerben zu erhalten“ (eine Begründung dieses Urteils gibt es unter diesem Link). Hier wird es kompliziert. Denn: Wie kann ein so ausschließendes Gesetz dazu führen, Integrität zu erhöhen? Wie kann ein fairer Wettbewerb existieren, wenn bestimmte Sportlerinnen wie Caster Semenya nicht mehr teilnehmen dürfen? Und: Wie kann Sport spannend sein und offen und ein auf gleichen Chancen basierender Wettbewerb?
Semenya ist eine so außergewöhnlich starke Läuferin, dass sie den anderen Sportlerinnen bei allen Wettbewerben leichtfüßig davonlief. Bei den olympischen Spielen 2016 standen drei intersexuelle Sportlerinnen auf den ersten drei Zielplätzen der 800-Meter-Distanz. Die Debatte um ungleiche Startbedingungen von Frauen mit niedrigem Testosteronwert ist nicht unberechtigt.
Wie kann Leistungssport fair und frei von Diskriminierung sein?
Während die Kategorie Geschlecht im Sport also einerseits dazu führt, dass Frauen überhaupt erst eine Rolle im Leistungssport spielen können, ist sie gleichzeitig diskriminierend gegenüber Personen, die sich biologisch nicht einem der beiden Geschlechter zuordnen lassen. Der Fall Semenya zeigt deutlich, dass die Kategorisierung in weiblich und männlich sehr viel weniger fair ist, als sie teilweise kommuniziert wird. Doch wie geht man damit um? Gibt es andere Kategorien, die eine höhere Integrität zulassen? Dr. Karolin Heckemeyer hat sich in ihrem Buch „Leistungsklassen und Geschlechtertest“ (das Buch ist unter Open Access verfügbar!), das 2018 im transcript-Verlag erschienen ist, aus sportwissenschaftlicher Perspektive mit dem Phänomen der Kategorie Geschlecht im Sport beschäftigt. Sie erwähnt mehrere Ansätze, die unter anderem ausschließlich gemischtgeschlechtliche Teams im Mannschaftssport oder weitere Gewichts- und Körpergrößenklassen, die sich nicht am Geschlecht orientieren, vorschlagen. Ein radikaler Ansatz soll die Anpassung des „schwachen Geschlechts“ an das „starke Geschlecht“ durch genetische Veränderung zulassen. All diese Ansätze sind jedoch aus leistungssportlicher, geschlechtlicher oder ethischer Perspektive nicht final umsetzbar. Eine umsetzbare Veränderung konnte bisher noch nicht gefunden werden; außerdem bleibt die Frage: ist es überhaupt erwünscht, die Diskriminierung im Leistungssport zu eliminieren? Die oben zitierte Aussage des internationalen Sportgerichts lässt dies bezweifeln.
Erste Ansätze im Breitensport
Anders als im Leistungssport jedoch, wo es verstärkt darum geht, die Höchstleistung in jeder Disziplin zu ermitteln, zielt der Breitensport auf körperliche Fitness, Ausgleich von Bewegungsmangel und Spaß. Hier könnte ein Aufbrechen der Kategorie Geschlecht also eher möglich sein; bei modernen Sportarten wie Bike Polo und Ultimate Frisbee sind gemischtgeschlechtliche Teams bereits in den Spielregeln verankert. Auch vom Berliner Fußball-Verband wurde ein Antrag eingereicht, der es Menschen, die sich keinem Geschlecht zugehörig fühlen, ermöglicht, sich für die Teilnahme an der männlichen oder weiblichen Mannschaft selbst zu entscheiden und sich das Geschlecht divers in den Spieler*innenpass eintragen zu lassen. In Bremen gibt es die Wilde Fußballliga, in der Menschen aller Geschlechter in gemeinsamen Teams gegeneinander antreten. Dennoch ist auch der Breitensport stark an der Kategorie Geschlecht orientiert. Die ersten Ansätze müssen für einen chancengleichen und vor allem diskriminierungsfreien Sport weiterentwickelt und umgesetzt werden – anders als im Leistungssport ist es im Breitensport uns allen möglich, mit offenem Umgang und fairem Sportgeist einen Beitrag zu leisten.
Bei der 44. Konferenz der Sportminister*innen, die am 12. November stattgefunden hat, wurde unter anderem eine „Bremer Erklärung“ zum Umgang mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt im Sport beschlossen. Diese richtet sich an Vereine und Verbände und regt mit sechs Empfehlungen dazu an, der Diskriminierung vorzubeugen und dagegen vorzugehen sowie die Teilnahme an sportlichen Angeboten für alle Menschen zu ermöglichen. Diese Erklärung kann als erster Schritt ein Bewusstsein in Sportvereinen und -verbänden für die vorliegende Problematik schaffen und Teilnehmende für diese Thematik sensibilisieren.
Lea Lünenborg
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