Bei den einen ist es nur das „lyrische Ich“, bei den ‚Anderen‘ liegt es an der Kultur – über wessen Gewalt wie gesprochen wird. Angenommen folgende Verse stünden auf den Wänden einer Schultoilette:
„Nicht gewaschen ist der Pimmel / Alles stinkt zum Himmel“.
„Und wegen dieser blöden Fotze / Erstick ich fast an meiner Kotze.“
„Ich frag dies ich frag das / Macht dir ficken wirklich Spaß / (…) Will doch gar nichts, nichts von dir / Bin nur zur Unterhaltung hier / Huch auf einmal ist er drin / Ach das ist doch nicht so schlimm.“
Was würde wohl passieren?
Nun, es ist anzunehmen, dass dieser Text in vielen Fällen als pubertäres Toilettengekritzel abgetan und nicht weiter thematisiert werden würde. Irgendwann würde die Toilette neu gestrichen und die Worte getilgt werden. Angenommen, der Verfasser dieses Textes, würde von einer mit pädagogischen Aufgaben betrauten Person erwischt oder von anderen Jugendlichen bei einer solchen verpfiffen werden, würden vermutlich einige mehr oder weniger tadelnde Worte folgen und der Schüler müsste die Schmiererei selbst entfernen. Gegebenenfalls müsste er eine Strafarbeit ableisten oder seine Eltern würden informiert werden. Angenommen aber, die Schule befindet sich in einem Stadtteil, der als einer „mit erhöhtem Entwicklungsbedarf“ gilt und der Schüler wird anhand Aussehen, Sprachkenntnissen oder Nachname als solcher eingeordnet, der dem bundesdeutschen ‚Wir‘ nicht zweifelsohne und schon immer angehört. Möglicherweise, weil er als „Moslem“ oder „Geflüchteter“ gilt? Dann wären durchaus Szenarien denkbar, die einen umfassenden gesellschaftlichen und medialen Aufschrei zur Folge hätten, in denen die „Kultur“ oder „Religion“ der ‚Anderen‘ zur alleinigen und besonders fatalen Ursache sexualisierter Gewalt benannt werden würde. Spätestens seit den Diskursen um die gewalttätigen Übergriffe in der Silvesternacht in Köln, Hamburg und Stuttgart ist deutlich geworden, dass es nur einen geringen Anlass braucht, um die von Rechtsgesinnten wie konservativen Christ*innen instrumentalisierte Debatte um den Sexismus der vermeintlich ‚Anderen‘ hochzukochen. Indem in diesem Zusammenhang der Schutz ‚unserer‘ Frauen* und Mädchen* vor den migrantisch oder muslimisch markierten ‚Anderen‘ eingefordert wird, werden koloniale und orientalistische Mythen als Erklärungsansätze bedient und zugleich davon abgelenkt, dass es sich bei Sexismus und sexualisierter Gewalt eben nicht um ein auf die dämonisierten „Anderen“ zurückführbares Phänomen, sondern vielmehr ein gesamtgesellschaftliches Phänomen handelt.
Angenommen die oben skizzierten Verse befinden sich nun aber nicht auf einer Toilettenwand, sondern in einem „Lyrikband“ und gehören darin neben Texten, die offensichtlich als „Vergewaltigungsphantasien“ zu klassifizieren sind, noch zu den ‚harmloseren‘ Texten? Angenommen, ebendieser Band wird nicht von einer adoleszenten Jungen*gruppe veröffentlicht, sondern von dem 57- jährigen Leadsänger der Band Rammstein, die als erfolgreichste Vertreterin der sogenannten „Neuen Deutschen Härte“ gilt? Einer Band, deren Musik je nach Interpretation als eine „ Art deutsche Karikatur“ oder bzw. als „deutsche Identitätsmusik“ eingeordnet werden kann und trotz ambivalenter Bezugnahme zu nationalistischen Narrativen in rechtsextremen Milieus durchaus auf Zuspruch stößt? Einer Band, die mit ihrer Ästhetik trotz Ungewissheit bezüglich der tatsächlichen politischen Verortung ihrer Mitglieder der Selbstimagination eines deutschen „Wir“ zuträglich ist und damit vielleicht vor allem während einer gesellschaftlich wahrgenommenen Krisenzeit wie der aktuellen Corona-Pandemie so manchen Trost spenden kann. Tatsächlich trendete der Hashtag #TillLindemann Anfang April auf Twitter sogar mehrfach. Während beim ersten Mal die Sorge um eine mögliche Covid-19-Erkrankung des Sängers die virtuelle Blase umtrieb, ging es einige Tage später um den bereits am 5.3. erschienenen Band „100 Gedichte“. Auf der Seite des Verlags Kiepenheuer & Witsch heißt es hierzu ganz harmlos daherkommend:
Neue Gedichte von Till Lindemann, dem Sänger der Band »Rammstein«.
Till Lindemann ist bekannt als Sänger und Texter von Rammstein. Unabhängig davon schreibt er seit über 20 Jahren Lyrik. Seine oft kurzen, pointierten Gedichte treffen den Leser direkt, überraschen und erschüttern. Die Texte umkreisen Till Lindemanns Themenkosmos in immer wieder neuen und originellen Varianten und erinnern an die Traditionen deutscher Lyrik seit der Romantik:
Die Natur. Der Körper. Die Einsamkeit. Die Gewalt. Die Liebe. Das Böse. Die Tiere. Der Schmerz. Die Schönheit. Die Sprache. Der Tod. Der Sex …
Till Lindemann spielt dabei mit den klassischen Formen der Dichtung, dem Volkslied, dem Abzählreim, der Ballade und findet immer seinen eigenen Ton, zu dem auch Komik und Ironie gehören. Nach »Messer« und »In stillen Nächten« eine bemerkenswerte, neue Sammlung von Gedichten – nicht nur für Rammstein-Fans.
Darunter werden unter anderem der Welt-Journalist Michael Pilz mit den Worten „Die deutsche Lyrik […] entblößt die Seele, um den Menschen und seine Natur in schönen Worten zu ergründen. Niemand tut das so erfolgreich wie Till Lindemann“ sowie der NZZ-Redakteur Adrian Meyer mit der Aussage „Hier schreibt ein Mensch darüber, worauf es ihm im Leben ankommt“ zitiert.
Reyhan Sahin alias Lady Bitch Ray fand auf Twitter in Bezug auf den im selben Band veröffentlichten Text „Wenn du schläfst“, der durchaus als Vergewaltigungsphantasie zu klassifizieren ist, und das Gros des darauf folgenden medialen Echos hingegen ziemlich klare Worte:
Das Vergewaltigungs-verherrlichende Gedicht von #Lindemann zeigt wieder mal, dass Sexismus, sexualisierte Gewalt & Rape Culture nicht nur im Hip Hop existent sind. Ich geb’n Fick drauf, dass Leute sowas mit Kunstfreiheit, Entertainment & Lyrischem Ich rechtfertigen! @KiWi_Verlag
— Lady Bitch Ray (@LadyBitchRay1) April 3, 2020
Mag sein, dass Christian Klemms These, wonach es sich bei Lindemanns Text nicht um einen „Aufruf zu Vergewaltigung“, sondern die „Beschreibung der abscheulichen Realität“ handelt, nicht gänzlich von der Hand zu weisen ist. Dennoch bergen derartige Texte das Potenzial, Gewaltverhältnisse zu reproduzieren und Erinnerungen an diese zu triggern. So schreibt Arno Frank im „Spiegel“ treffend „Überlebende sexueller Gewalt haben ein berechtigtes Interesse daran, nicht mit verharmlosenden oder gar verherrlichenden Schilderungen dieser Gewalt behelligt zu werden“. Und auch Julia Maria Grass schreibt in der Berliner Zeitung
„Wer in dieser Debatte auf der Strecke bleibt, das sind die Menschen, die ganz real erlebt haben, über was wir hier kunstvoll streiten. Die Opfer sexueller Gewalt. Ihnen wird eine Diskussion um Kunstfreiheit nicht gerecht.“
Entsprechend heißt es auch bei Julia Maria Grass, dass die zu stellende Frage nicht die nach der Kunstfreiheit (die ja letztlich auch Ergebnis gesellschaftlich produzierter Rechtsdiskurse ist), sondern die nach „der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung, die ein solcher Weltstar im Kampf gegen Diskriminierung und Gewalt trägt“, sein sollte: „Trotz seiner Texte. Wegen seiner Texte. Vor allem: Ganz real – ganz unabhängig von der Kunst.“
Ebendies bedeutet aber auch, dass eine Gesellschaft, die Weltstars wie Till Lindemann hervorbringt und feiert, ihre ‚eigene‘ „Fortschrittlichkeit“ hinterfragt und ihre Selbstvergewisserung als postsexistische Gesellschaft aufgibt und die gleichen Maßstäbe an Identifikationsfiguren wie Lindemann anlegt wie an diejenigen, die kraft tatsächlicher oder zugeschriebener Herkunft, Vorbildung oder Postanschrift aus dem bundesdeutschen postpubertären (im Feuilleton besprechbaren) ‚Wir‘ ausgeschlossen werden können.
N.M.
Schreibe einen Kommentar