Neues Jahr – neues Glück? Wir alle blicken gespannt auf das Jahr 2021. Was wird es uns bringen? Nachdem das Jahr 2020 bedingt durch Corona für die meisten von uns völlig anders verlief als gedacht, möchten wir doch zukünftig wieder voll durchstarten.
Im Beruf wieder Vollgas geben, Fortbildungen in Angriff nehmen, unsere Corona-Kilos loswerden, die wir uns im Homeoffice und auf der Couch angefuttert haben. Das gelingt am besten mit den richtigen Lebensmitteln oder gleich einem strikten Ernährungsplan. Und natürlich werden wir im kommenden Jahr ganz viel Sport machen. Also auf zur Selbstoptimierung oder besser doch nicht?
Ist Selbstoptimierung Selbstbetrug?
Höher, weiter, besser – beruflich und privat akzeptieren wir kaum noch Grenzen. Jede*r optimiert sich selbst, wo es nur geht. Das Ich vermessen – und es dann „besser“ machen: Selbstoptimierung ist ein aktuelles Leitbild, aber was genau versteht man darunter? Ist alles, was „mich“ besser macht, auch gut? Und wer legt die Selbstoptimierungs-Ziele und die dahinterstehenden Wertmaßstäbe und Ideale fest?
Morgens joggen, mittags am besten „low carb“ kochen und abends dann noch schnell zum Weiterbildungskurs. Dazwischen arbeiten, arbeiten und nochmal arbeiten. So ein Tag kann schon einmal zwölf Stunden lang sein. Am Wochenende heißt es dann: Freund*innen einladen, um die Kochkünste vorzuführen. Vorher aber noch schnell eine Runde Krafttraining und im neuen Ratgeber blättern. In fast allen Lebensbereichen sind wir bemüht, uns zu verbessern. Schlank durch Ernährungs- und Fitnesstraining, gedankenschnell dank Vitaminpräparat, erfolgreich im Job durch digital überwachtes Zeitmanagement – die Varianten der individuellen Steigerungsmöglichkeiten sind groß.
Klingt nach einem aufregenden und erfüllenden Leben, oder? Menschen optimieren ihre Zeit – jedoch nicht, um entspannter zu leben, sondern vielmehr, um sich noch mehr To-dos aufzubürden als sowieso schon. Dieses ständige Überperformen kann zu einer Gefahr werden, wenn jede freie Minute mit Aufgaben gefüllt wird. Das Leben wird dadurch nicht besser, wir gewinnen damit nichts.
Der Zwang zur Selbstoptimierung kann zum Wahn(sinn) führen und übertriebene Erwartungen entstehen lassen.
Ich tracke – also bin ich?
Was genau ist mit Selbstoptimierung gemeint? Damit ist nicht nur allein die Erwartung der körperlichen Selbstoptimierung gemeint, sondern auch das Ziel, in jedem Bereich das absolute Maximum zu leisten und Perfektion anzustreben – auch um andere Menschen oder die Arbeitgeberin zu beeindrucken. Das „Self-Tracking“ als digitale Selbstvermessung zum Beispiel mithilfe von Schrittzählern oder Pulsmessern ist ein gutes Beispiel für eine rationale, disziplinierte und systematische Selbststeuerung über Rückkoppelung. Die Vermessung des eigenen Selbst kann bedrohliche und groteske Ausmaße annehmen, wenn insbesondere junge Menschen sich durch die digitale Erfassung körperbezogener Daten gängeln und von Plastikarmbändern per LED-Anzeige vorschreiben lassen, wann sie wo welcher sportlichen Aktivität nachzugehen haben.
Das Jahresabo im Fitnessstudio gehört somit zur Normalausstattung auf dem Weg zur Bikinifigur oder zum durchtrainierten Muskelpaket. Und auch auf Facebook oder Instagram möchten wir ganz vorne mit dabei sein und möglichste viele positive Zustimmungen bekommen. In Berufsnetzwerken wie Xing oder LinkedIn messen und vergleichen wir uns. Dies kann allerdings zur Frustration führen, wenn der Gedanke aufkommt: „Da ist etwas, was ich nicht so gut kann“ oder „Da ist jemand besser als ich.“ Und es wird immer jemanden geben, der mehr verdient, mehr erreicht und besser aussieht. Es fällt uns schwer, unsere Grenzen zu akzeptieren. Schlimmer noch: Misserfolge erzeugen noch mehr Druck. So machen wir uns unglücklicher, provozieren Selbstzweifel und verfehlen das Ziel, das wir erreichen wollten.
Besseres Leben durch Selbstoptimierung?
Der Begriff des „Optimierens“ geht zurück auf das lateinische „optimus“: „der Beste, der Tüchtigste“. Entsprechende Handlungen sollen daher zu einem „Optimum“ hinführen, das heißt zum bestmöglichen oder vollkommenen Zustand, den ein Mensch erreichen kann. „Selbstoptimierung“ lässt sich ganz allgemein definieren als kontinuierlicher Prozess der ständigen Verbesserung der persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten mittels Selbstthematisierung, rationaler Selbstkontrolle und permanenter Rückmeldungen hin zur bestmöglichen persönlichen Verfassung.
Selbstoptimierung ist ein sehr kontrovers diskutiertes aktuelles gesellschaftliches Leitbild oder Orientierungsmuster für die individuelle Lebensgestaltung: Jeder und jede soll das Beste aus sich und seinem/ihrem Leben machen. Von Trendforscher*innen wird das 21. Jahrhundert als „Zeitalter der Selbstoptimierung“ ausgerufen. Worin genau das „Optimum“ besteht und welches die konkreten Ziele der Selbstoptimierung sein sollen, steht nicht definitorisch fest. Optimiert werden können sämtliche Dimensionen des „Selbst“, also zum Beispiel physische, psychische, soziale und geistige Zustände oder Eigenschaften, Handlungsabläufe, Arbeitsprozesse, Kompetenzen etc. Dabei wird immer ein „Mehr“ angestrebt: mehr Gesundheit, mehr Intelligenz, mehr Selbstdisziplin, mehr Anerkennung,…
In der Gegenwart ist eine heftige Kontroverse darüber entfacht, wer die Selbstoptimierungs-Ziele und die dahinterstehenden Wertmaßstäbe und Ideale festlegt. Aus Sicht der Kritiker*innen werden Ziele, Ideale und das „Optimum“ den Menschen „von außen“ von der Gesellschaft vorgegeben. Sogar im DUDEN heißt es, Selbstoptimierung sei „jemandes (übermäßige) freiwillige Anpassung an äußere Zwänge, gesellschaftliche Erwartungen oder Ideale“.
Weniger ist mehr
Wie lassen sich nun die Ziele der Selbstoptimierer*innen von einem olympischen „höher, schneller, weiter“ auf innenorientierte Werte und Ziele wie Gesundheit, Selbstbestimmung, Entspannung und Glück verschieben?
Wir können damit anfangen wertzuschätzen, was wir bereits sind. Wir stehen im Zentrum unseres Lebens. Und dann sollten wir uns bewusstmachen, wo wir im Alltag verführt werden und mit welchen Methoden. Wir hinterlassen Spuren im Netz, viele Menschen haben Angst vor staatlicher Überwachung. Tatsächlich überwacht werden wir aber von den Konsumunternehmen. So verdienen sie ihr Geld. Sie zeigen uns in Online-Werbeanzeigen immer wieder Produkte, die unser Leben besser machen sollen. Die Botschaft ist: Kauf dies, dann schöpfst du deine Möglichkeiten aus. Und weil sie ziemlich viele Daten über uns haben, wissen sie über jede*n Einzelne*n, wofür sie oder er empfänglich ist. Wenn wir unsere Antennen schärfen, können wir den Verlockungen der Selbstoptimierungsindustrie ziemlich gut entsagen. Statt eines neuen Produktes oder eines neuen Trends können wir unsere echten, eigenen Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellen.
Selbstreflektion und Müßiggang statt Aktivitätenplan
Die Vermutung, Selbstoptimierung habe mit den zunehmenden Burn-out-Fällen zumindest etwas zu tun, liegt nahe. Wer aber heutzutage den Mut zur Bescheidenheit, zur Selbstbeschränkung oder auch zur Muße predigt, macht sich der Faulenzerei verdächtig. Dabei sagt die Kreativitätsforschung, dass gerade im Stadium des Nichttuns, der Muße, ja der Langeweile zuweilen die besten Heureka-Ideen geboren werden.
Die Jagd nach dem Maximum, Topleistungen und kreativ-innovativen Ideen setzt also nicht zwingend einen Zustand der absoluten Perfektion und Selbstoptimierung voraus. Im Gegenteil: Das Leben im Stand-by-Modus ohne das permanente Blinken und Bimmeln von Smartphone, Apps und Co. und ohne die sekündliche Belastung durch die Selbstvermessungstechnik am Armband kann den kreativen Blick für das Neue und Unerwartete weiten.
Keine Angst vor Kontrollverlust
Die große Herausforderung für die meisten Menschen besteht wohl darin, sich auf eine Entwicklung einzulassen, die vielleicht nicht eintritt und nicht messbar und kontrollierbar ist. Der ständige Datentransfer, der mit der Selbstoptimierung einhergeht und Voraussetzung für den Optimierungswahn ist, spielt eine allgegenwärtige Beherrschbarkeit des beruflichen und privaten Alltags, ja des Lebens vor, die es nicht gibt. Darum: Man sollte lernen, sich auf das Unkontrollierbare und Nichtmessbare des Lebens einzulassen.
Inka Mühlbrandt
Schreibe einen Kommentar