Von Überdiagnostizierung auf Social Media und der ausbleibenden Gesellschaftskritik
Unter jungen Leuten ist Mental Health mittlerweile zunehmend entstigmatisiert, jedoch ist der übermäßige Umgang auf Social Media damit mittlerweile bedenklich: das Individuum wird pathologisiert und die Machtsysteme ausgeblendet. Warum sind so viele Frauen “people-pleaser” und “anxiously attached” und so viele (vor allem cishetero) Männer potenzielle “Narzissten” oder “emotionally unavailable”? Wie sehr ist die Wissenschaft selbst von sozialen Hierarchien geprägt? Wo ist in alldem das patriarchale System zu erkennen statt individuellem Scheitern?
Vorerst ist wichtig zu betonen, dass der offenere Umgang der jüngeren Generationen mit psychischer Gesundheit einen positiven Wandel im Verhältnis zu „Sei ein Mann“- oder „Ihr seid alle zu empfindlich“-Boomern aufzeigt. Doch es steckt mehr als ein Generationenkonflikt hinter dieser Entwicklung und auch sie birgt Schattenseiten in Bezug auf unsere Weltsicht und unser Zusammenleben.
Aktuelle Trends
Die aktuellen Trends auf Tiktok oder auch Instagram stellen häufig Hobbydiagnosen über unser Verhalten. Besonders während der Corona-Pandemie begannen viele, sich mit ihrer Psyche auseinanderzusetzen, da die Pandemie ein äußerer Faktor war, der diese stark beeinflusste und Digitalität förderte. „Put Your Finger Down If…“-Videos gingen viral und zählten zusammenhangslos Symptome unterschiedlichster psychischer Erkrankungen und Zustände auf. Es hat sogar einen massiven „Life Coach“-Markt angetrieben und aus der Pathologisierung ganz alltäglichen Verhaltens wird durch einen schier endlosen Selbstoptimierungswahn Profit gewonnen. So wie die Beliebtheit von Hogwarts Häusern (die schulpädagogisch sicherlich fragwürdig sind) oder Persönlichkeitstests schon immer bewiesen haben: wir wollen uns kategorisieren, identifizieren und allen voran: uns verstehen. Sicherlich können Selbstdiagnosen dazu beitragen, unsere Leiden zu lindern und uns verstanden zu fühlen. Einige Tipps im Umgang mit Herausforderungen sind vielleicht sogar hilfreich und bei der mangelnden Versorgung unseres Gesundheitssystems, den endlosen Therapie-Wartelisten und der Kostenverbundenheit des Ganzen ist diese populäre Alternative auch keine verwunderliche Entwicklung. Doch manche scheinen sich im Netz der Selbstanalyse lediglich zu verheddern, ohne eine tatsächliche Änderung der eigenen Lebensumstände zu bezwecken.
Die Vielschichtigkeit unseres Daseins
Die Psychologie ist eine Wissenschaft, die die innere Erlebniswelt des Menschen erforscht, sich mit seiner Prägung auseinandersetzt und dementsprechend Lösungsansätze für mögliche Leiden konzipiert. Die Soziologie ist eine Wissenschaft, die sich mit der Gesellschaft auseinandersetzt und ihre Wechselwirkung mit dem Individuum beobachtet. Weitere Gesellschaftswissenschaften erforschen auch größere Systeme wie auch Konstrukte und ihre Einflüsse auf das menschliche Erfahren der Welt. Dies tun beispielsweise die Politikwissenschaften oder Kulturwissenschaften. Natürlich leisten auch die Naturwissenschaften einen unerlässlichen Beitrag, um unsere genetische Zusammensetzung und unsere Umwelt zu verstehen. Der Punkt ist: wir sind so komplex, dass es so viele wissenschaftliche Perspektiven gibt, aus denen man uns betrachten kann. Verlieren wir das Verständnis über die Vielschichtigkeit unseres Daseins, verlieren wir uns selbst.
Bereits der renommierte Biologe Richard Lewontin verwarf die Idee, dass wir nur durch unsere Biologie bestimmt seien, als rein ideologisch à la „Frauen/Männer sind nun mal so wegen ihrer Biologie“ als Totschlagargument. Sein „Gleichnis zweier Felder“ in seinem Werk „Not In Our Genes: Biology, Ideology and Human Nature“ verbildlicht den Einfluss unseres Umfelds auf die Gene. Er kritisiert den häufigen Missbrauch von Biologie zur Rechtfertigung gesellschaftlicher Hierarchien und ihrer Darstellung als unveränderbare Gegebenheiten. „It Didn’t Start With You: How Inherited Family Trauma Shapes Who We Are and How to End the Cycle” von Mark Wolynn setzt sich zudem mit der genetischen Vererblichkeit von Traumata auseinander, wie auch „Plantation Memories: Episodes of Everyday Racism“ von Grada Kilomba das vererbte Trauma der rassistischen Weltordnung zentriert.
Unsere Gesellschaft prägt uns psychisch und physisch.
Intersektionale Perspektiven
Besonders in Fragen von emotionaler Zugänglichkeit, darf man die kolonialen, kapitalistischen und cisheteronormativen Verhältnisse nicht vergessen, die wir und die uns erziehenden Generationen erlebt haben und noch immer erleben. Die US-amerikanische Autorin bell hooks hat sich in ihren Werken „All About Love“, „Communion: The Female Search For Love“ und „The Will To Change: Men, Masculinity and Love” intersektional mit einer Analyse unserer Unfähigkeit, einander aufrichtig zu lieben, beschäftigt. Auch Şeyda Kurt und Emilia Roig erweitern hooks Ansätze in ihren Büchern „Radikale Zärtlichkeit: Warum Liebe politisch ist“ und „Das Ende der Ehe“. Schließlich ist nicht nur eine interdisziplinäre Perspektive, sondern auch eine intersektionale Perspektive auf die menschliche Psyche im aktuellen Umgang mit der Thematik in den sozialen Medien meist außenvor geblieben. Beispielsweise müssen wir, wenn über die Unterdiagnostizierung von Frauen im Autismus-Spektrum gesprochen wird, die Intersektionen Ability und Gender berücksichtigen, ganz zu schweigen von all den anderen möglichen sozialen Zugehörigkeiten.
Diese Verbindungen erkannte ich schnell in meiner eigenen Forschung zum sogenannten „Hochstapler-Syndrom“. Natürlich spielen individuelle Faktoren eine Rolle in dieser Form eines Minderwertigkeitskomplexes, wie die Bestseller-Lektüre „Das Kind in dir muss Heimat finden: Der Schlüssel zur Lösung (fast) aller Probleme“ von Stefanie Stahl verdeutlicht, doch ich fand heraus, dass überproportional marginalisierte und im Bildungssystem unter-repräsentierte Gruppen betroffen waren: Frauen, Personen aus nichtakademischen Haushalten und Personen mit nicht-europäischer Migrationsgeschichte. Anstatt die Einzelperson zu pathologisieren, geben uns solche Erkenntnisse Anreize, etwas auf Systemebene zu verändern. Wie können wir das Bildungssystem zugänglicher machen, damit sich alle wohler fühlen und berücksichtigt werden? Schließlich ist es eine Wechselwirkung: auch wir prägen unsere Gesellschaft.
Wir sind nicht defekt, Wandel ist möglich
Der sogenannte „Psychoboom“ mit reinem Fokus auf die Einzelperson und ihre privaten Erfahrungen, ohne Blick auf größere gesellschaftliche Zusammenhänge schafft jedoch das tragische Bild des „defekten Individuums“. Wenn wir uns nur damit beschäftigen, wie „kaputt“ wir sind, fühlen wir uns hilflos. Außerdem hat bedauerlicherweise die Prominenz der Pop-Psychologie dazu geführt, dass psychologische Begriffe zunehmend missbraucht oder instrumentalisiert werden, um der Eigenverantwortung zu entgehen. In „It’s On Me: Accept Hard Truths, Discover Your Self, and Change Your Life“ setzt sich die Psychotherapeutin Sara Kuburic mit ihrem Trauma als Überlebende der Jugoslawien-Kriege, Verlorenheit und der Frage nach Eigenverantwortung auseinander. Zwar sollten ihre Anmerkungen zu Existentialismus und Minimalismus antikolonial hinterfragt werden, doch ihre Erfahrungen und Einstellung zur Wandlungsfähigkeit sind wertvoll und ermutigend.
Besonders die „Liberation Psychology“ ist ein Zweig der Psychologie, der sich genau mit diesen Fragen aus antikolonialer Perspektive beschäftigt und motiviert, den kapitalistischen Hyperindividualismus der westlichen Welt abzulegen, um stattdessen mit den Konzepten der Community Care und transformativer Gerechtigkeit ein gemeinsames, intersektionales Heilen voranzutreiben – um Verantwortung für unsere Traumata zu übernehmen, Kommodifizierung, Instrumentalisierungen und Hilflosigkeit zu vermeiden und uns zu ermächtigen, die Zustände unseres Zusammenlebens zu verändern.
Svea M. Schnaars
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