„Mädchen oder Junge?“ – „Hauptsache gesund!“
Ähnlich wie die biologische Genderdetermination dieser Frage sollte auch die gutgemeinte Antwort hinterfragt werden. Denn was bedeutet “gesund”? Ist ein Neugeborenes nicht gesund, wenn es mit nur neun Fingern zur Welt kommt, gehörlos ist oder gewisse genetische Besonderheiten aufweist? Ja, in unserer Gesellschaft werden diese Abweichungen zur gängigen Körpernorm als “nicht gesund” kategorisiert. Doch ist das Leben dieser Menschen dadurch weniger lebenswert, als das eines “gesunden” Menschen?
Welche Gesundheitsnorm setzt man dabei voraus und wem steht es zu, schon vor dem Beginn des Lebens einer Person darüber zu urteilen, ob dieses vermeintlich “kranke” Leben lebenswert sein wird oder nicht?
Diese großen Fragen rücken ins Zentrum der Betrachtung, wenn es um Pränataldiagnostik geht. Oftmals ist das Betroffenen vorab nicht ersichtlich, weil jene Diagnostik als ein sinnvoller Zusatz zu Routineuntersuchungen dargestellt wird und die möglichen Konsequenzen der Inanspruchnahme erst nach den durchgeführten Tests (und mit etwaigen Ergebnissen) realisiert werden. Nicht selten sind Betroffene mit den Folgen dann auf sich gestellt.
Aber fangen wir von vorne an. Wieso ist diese Thematik gerade aktueller denn je? Was genau ist Pränataldiagnostik? Was kann sie und was kann sie vor allem aber auch nicht? Und warum wird sie zu einem ethischen Drahtseilakt?
Aktualität der Thematik
Die Aktualität der Debatte entsteht mit dem Entschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses, dass nicht-invasive Pränataltests (NIPT) seit diesem Monat Kassenleistung sind. Zuvor zahlte man sie selbst, sofern man gesetzlich versichert ist. Schön und gut, bezüglich Gleichstellung im Gesundheitssystem (was ein anderes Thema ist). Welche Motivation Krankenkassen mit dieser Kostenübernahme verfolgen und welche ethischen Fragen dies aufwirft, bleibt zunächst einmal dahingestellt.
Pränataldiagnostik und ihre Anwendungsbereiche
Es handelt sich dabei um ein Diagnoseverfahren, welches bereits in der frühen Schwangerschaft (und bis zur Geburt hin) versucht, Aussagen über den Gesundheitsstatus des Kindes im Bauch zu treffen. Die verschiedenen Anwendungsverfahren unterteilt man in invasive und nicht-invasive Methoden. Zu den invasiven gehört beispielsweise die Fruchtwasseruntersuchung, die ein gewisses Risiko für Fehlgeburten mit sich bringen kann. Die nicht-invasiven Verfahren sind zwar rein medizinisch risikofrei, die psychologische Last, die sie jedoch mit sich bringen können, werden nur selten antizipiert. So gilt es festzuhalten, dass es sich bei dem NIPT um einen Bluttest handelt, der anhand von Statistiken versucht, Aufschluss bezüglich eines möglichen Risikos für Trisomien zu geben – kurz: sie suchen nach „Fehlern“ und stellen vor Entscheidungen.
Und da befinden wir uns schon bei Frage drei, den Grenzen dieser Diagnostik. Denn was sie mit Sicherheit nicht kann, ist eine klare Aussage darüber zu treffen, dass das Kind „gesund“ ist. Lediglich auf fünf bis 10 Prozent möglicher Besonderheiten kann ein NIPT hinweisen. Die Aussage „Herzlichen Glückwunsch, ihr Kind ist gesund“, die sich viele Schwangere erhoffen, kann dieses Diagnoseverfahren demnach nicht geben.
Deshalb sollte mittels einer umfassenden Beratung (von Gynäkolog*innen, Hebammen oder dezentralen Beratungsstellen) vor dem Test abgewägt werden, was mögliche Konsequenzen sein könnten und ob man bereit ist, diese in Kauf zu nehmen für einen statistisch geschätzten Wahrscheinlichkeitswert bezüglich maximal zehn Prozent an denkbaren „Anomalien“.
Persönliche Dimension
Denn wenn der Test vermeintlich „auffällige“ Werte ergibt, muss man sich damit auseinander setzen, ob man sich tatsächlich vorstellen kann, auf solch einer Grundlage einen Abbruch vorzunehmen. Ob man wirklich alles vorab wissen will. Ob es einem zusteht einzuschätzen, wie lebenswert das Leben einer anderen Person sein wird. Ob man in der Schwangerschaft überhaupt fähig ist, solche weitreichenden Entscheidungen zu treffen. Dass weitere und dann auch invasive Methoden empfohlen werden, um mehr „Klarheit“ zu erlangen, die dann aber auch ein gewisses Risiko für das Kind mit sich bringen und einen ganzen Rattenschwanz an Untersuchungen und weitreichenden Überlegungen mit sich bringen können.
Gesellschaftlicher Diskurs
Individuelle Schicksale einmal beiseite gelassen drängt sich abschließend noch die Kontroverse der gesellschaftlichen Bedeutung dieses Beschlusses auf. So wirken sich derartige (gesundheits-)politische Entscheidungen maßgeblich auf die Öffentlichkeit aus. Begibt man sich nicht in die Gefahr, Menschen mit Trisomien als vermeidbares Risiko zu stigmatisieren? Ist diese Form der Normsetzung nicht entgegen jeglichen Vielfaltsgedankens unserer modernen und pluralistischen Gesellschaft? Schließlich kämpfen doch verschiedenste identitäre Bewegungen für die Anerkennung jeglicher Lebenswelten und –formen. Spinnt man diese Art des Eingreifens in ein neu entstehenden Leben weiter, könnte es auch erst der Anfang davon sein, dass bald auch Selektion anhand von anderen Kategorien (Geschlecht, Größe oder Haarfarbe) betrieben werden könnte. Möglicherweise sollte Normativität in der Gesundheit ebenso in Frage gestellt werden, wie bezüglich Körper, sexueller Orientierung oder Lebensgestaltung.
Fazit
Abschließend sollte man betonen, dass medizinischer Fortschritt gut und wichtig ist und es vor allem in einer solch aufreibenden Zeit wie einer Schwangerschaft wichtig ist, gut beraten und betreut zu sein. Dazu kann auch für manche werdende Eltern gehören, möglichst viel über ihr Ungeborenes zu erfahren und sich auf mögliche Besonderheiten (persönlich und auch medizinisch) vorzubereiten. Diagnosen vor der Geburt können natürlich hilfreich sein, um schon vorab Kontakt zu anderen Familien mit Trisomien aufnehmen zu können oder eine spezielle Klinik zum Entbinden auszusuchen, um die bestmögliche medizinische Versorgung für das Ungeborene sicherzustellen.
Gleichzeitig kann es aber auch die „gute Hoffnung“ nehmen, die oftmals durch eine achterbahnartige Zeit trägt. Es sollte unbedingt betont werden, dass es weiterhin Vermutungen sind, die keinerlei Aufschluss über das tatsächliche Leben geben können, denn dies entwickelt sich erst mit der Ankunft auf der Welt.
Freue ich mich vielleicht auch über ein besonderes Kind? Nehme ich es an, wie es ist?
Wer sich gern nochmal detaillierter mit diesen Fragen auseinander setzen möchte, sollte diesem Veranstaltungshinweis folgen oder sich folgende Reportage anschauen.
Lain
Terrassenüberdachung meint
Ich bin so dankbar auf diesen Artikel gestoßen zu sein. Es erläutert meine ganzen Fragen und ist zudem hilfreich. Danke.
Lg Tilda