Eine Trennung, die über die der Telefonverbindung hinausgeht – am 1. Oktober war am Theater Bremen die Premiere von Die menschliche Stimme / La Voix humaine von Francis Poulenc aus dem Jahr 1959, basierend auf dem Theaterstück von 1930 des surrealistischen Schriftstellers Jean Cocteau. Beide sollen bei der Arbeit an ihren Werken Liebeskummer gehabt haben, sodass dem Stück eine therapeutische Wirkung nachgesagt wird.
„Eine Frau telefoniert, am anderen Ende der Leitung der Mann, der sie verlassen hat. Das Telefonat mit ihm ist die einzige Verbindung, die sie zu ihm noch aufrechterhalten kann – und zu ihrem Leidwesen bricht diese ständig ab.“ Theater Bremen
Die Sopranistin Nadine Lehner leiht dieser Frau ihre menschliche Stimme und zieht uns in den Bann der Liebe, Einsamkeit und des Schmerzes. Die menschliche Stimme ist für uns alle – gerade in Coronazeiten – aktuell wie eh und je.
Wir hören nicht alles
Wir konstruieren unsere eigene Realität im Kopf. In Die menschliche Stimme hören wir die Stimme einer einzigen Frau, einen einsamen Monolog als Ausschnitt eines Dialogs am Telefon. Eine mir bekannte Situation. Nicht selten höre ich an der Ampel ungewollt jemandem beim Telefonieren zu. Ich verstehe nur Gesprächsfetzen und doch puzzele ich sie automatisch zu einem Ganzen zusammen. Aber verstehe ich wirklich die Bedeutung des Gesagten, ohne den Kontext zu kennen? Vielmehr bringe ich als Zuhörerin meine eigenen Gedanken, Erfahrungen und Gefühle mit ein. Dabei interpretiere ich eine Aussage immer etwas anders als die miteinander Kommunizierenden. Das geschieht sogar zwischen den Sprechenden selbst. Wir können miteinander kommunizieren, wenn sich die Bedeutungen in gewissem Maße überschneiden, aber ganz deckungsgleich sind sie nie. Denn neben der wörtlichen Bedeutung von Aussagen gibt es auch immer eine Konnotation – die „Mitbezeichnung“. Wie wir diese verstehen, beeinflusst unsere Gefühle.
Stimme & Musik als Spiegel von Gefühlen
Mit den mitschwingenden Gefühlen spielt Francis Poulenc in seiner Mono-Oper. Durch die gesungenen Gesprächsstücke des Telefonats liegt der Fokus besonders auf dem Klang der Stimme. Musik ist gut darin, Emotionen auszudrücken. In Die menschliche Stimme füllt sie eine Lücke in dem unvollständigen Telefonat. Dank des Gesangs wurde ich besonders tief in den Strudel der wechselnden Gefühle der telefonierenden Protagonistin hineingezogen. Der Komponist setzt zudem das Klavier als Untermalung von Empfindungen und anstelle des Nicht-Gesagten ein. In manchen Momenten spiegelt das Klavier die Emotionen der Frau am Telefon wider, in anderen die des Mannes in der Leitung oder dessen Stimme. Und immer wieder hören wir auch das Klingeln des Telefons durch das Klavier. Wann was davon zu hören ist, können wir unterschiedlich interpretieren.
Der Wandel der Beziehung
Die Protagonistin empfindet über das ganze Stück hinweg eine starke Liebe zu ihrem Expartner. Während des Gesprächs durchlebt sie mehrere Phasen der Trennung.
„Große Angst schlägt um in Sehnsucht, Trauer in Wut und schließlich in Erkenntnis. Eine emotionale Achterbahnfahrt in weniger als einer Stunde.“ Dramaturgin Isabelle Becker
Zunächst behauptet die Frau, dass es ihr gut gehe, es folgt ein Wechselbad der Gefühle. Zu Beginn zieht sie seinen Pullover an und hält sich daran fest. Sie hat Sehnsucht nach ihm, sie leidet. Oft erniedrigt sie sich selbst und drückt ihm gegenüber ihre Verehrung aus. Ich habe das Gefühl, dass hierbei klassische Geschlechterrollen zum Ausdruck kommen. Die Emotionen der Protagonistin übertragen sich auch auf mich als Zuhörerin.
„Die menschliche Stimme“ in Corona-Zeiten
Regisseurin Vivien Hohnholz präsentiert mit Die menschliche Stimme / La voix humaine ihre einzigartige Abschlussarbeit. Zufall ist, dass sie dieses Stück schon vor Corona geplant hatte. Es ist Jahrzehnte nach seiner Uhraufführung noch immer aktuell und trifft einen Nerv in Zeiten von Corona.
„Viele mussten schmerzlich erfahren, dass man Nähe plötzlich nur noch über das Telefon erfahren konnte.“ Regisseurin Vivien Hohnholz
Wie verändert das Telefonat unsere Kommunikation? Die Protagonistin, genannt Die Frau, will die Verbindung zu ihrem Expartner halten. Doch die (Telefon-)Verbindung wird gestört. Immer wieder muss sie mit Menschen von der Schaltzentrale sprechen. Denn zur Zeit der Entstehung des Theaterstückes und der Oper wurden Telefonverbindungen oft nicht direkt, sondern über eine Schaltzentrale vermittelt. Und unabhängig davon haben wir damals wie heute bei einem Telefonat keinen Zugang zu Kommunikationsformen wie Gestik, Mimik und Berührungen. Das mussten wir besonders während des Corona-Lockdowns alle erfahren. Wir können schwerer erkennen, ob uns jemand etwas vorspielt. Die Telefonverbindung scheint im Stück für eine Distanz zu stehen, welche zuweilen unüberwindbar ist.
Diese hörens- und sehenswerte Mono-Oper hat mich vollständig in den Bann gezogen und zum Nachdenken angeregt. Ein Eindruck, der bleibt.
Besetzung
Die Frau: Nadine Lehner
Musikalische Leitung: Killian Farrell
Regie: Vivien Hohnholz
Bühne: Carla Maria Ringleb
Kostüm: Emir Medic
Licht: Christian Kemmetmüller
Dramaturgie: Isabelle Becker
Termine:
Freitag, 09. Oktober 2020, 19:30 – 20:30 Uhr
Sonntag, 11. Oktober 2020, 15:30 – 16:30 Uhr
Freitag, 13. November 2020, 19:30 – 20:30 Uhr
Montag, 23. November 2020, 19:30 – 20:30 Uhr / Zum letzten Mal
Hannah Lüdert
Sunny meint
Hallo, derzeit bin ich in tiefer Trauer,und habe zum Thema was bei euch gesucht…