„Ich bin der Zwillingsbruder eines Bürgerkriegs, der mein Heimatland verwüstet hat“, so Protagonist Wahab im Schauspiel Im Herzen tickt eine Bombe. Die Flucht vor dem Bürgerkrieg verbindet Wahab, Theaterautor Wajdi Mouawad und Darsteller Patrick Walaraj Yogarajan. Am 2. Oktober gab es eine doppelte Premiere im Kleinen Haus: Es war die deutschsprachige Erstaufführung des Stückes Im Herzen tickt eine Bombe und am Theater Bremen die erste Premiere des neuen Ensemblemitgliedes Patrick Balaraj Yogarajan .
Wahabs Monolog
In einer kalten Winternacht bekommt Wahab, ein junger Erwachsener, einen Anruf seines Bruders – die Mutter liegt im Sterben. Er eilt ins Krankenhaus und sieht sich mit Vielem gleichzeitig konfrontiert. Wahab sucht nach dem Beginn seiner Geschichte. Beginnt sie jetzt, mit dem Sterben der Mutter? Oder schon früher, als er mit sieben in seinem Geburtsland mit ansehen musste, wie ein Bus vor seinen Augen angezündet wurde? Man weiß nie, wann eine Geschichte beginnt, aber um sie zu erzählen, braucht es Worte. Und viele dieser Worte sowie Gefühle schwirren durch Wahabs Kopf – auch Ungewollte. So spürt er die Pflicht, seine Mutter zu lieben. Außerdem ist er wütend, obwohl Trauer erwartet wird. Gleichzeitig fühlt er sich hilflos, weil er nichts für sie tun kann. Und er empfindet Mitleid. Als Bewältigungsstrategie wählt Wahab die Kunst. Denn er sucht beim Malen nach Erinnerungen an seine Mutter aus einer Zeit, bevor sie ihm fremd geworden ist.
In dem poetischen Monolog erleben wir Wahabs letzte Begegnung mit seiner Mutter. Dabei kommen traumatische Erlebnisse aus seiner Kindheit wieder hoch. Auf der Bühne symbolisiert das Dreirad zugleich seine Mutter und seine verlorene Kindheit. Wahab versucht, seine explodierenden Gefühle zu sortieren. Denn er ist auf der Suche nach sich selbst.
Im Herzen tickt eine Bombe – Wahab sucht sich selbst
„Wahab sucht danach, wie man eine Geschichte über sich selbst erzählt und setzt immer wieder neu an: Es sind drei Ereignisse, von denen er erzählt, vom Krieg, vom Verlust der Mutter durch Krebs und vom Erwachsenwerden. Er fragt sich: Was macht mich aus? Wir alle haben verschiedenste Ereignisse, die uns prägen und unsere Wahrnehmung auf die Welt bestimmen.“ Darsteller Patrick Balaraj Yogarajan
Es ist leicht, sich mit Wahab zu identifizieren. Auch für diejenigen, die keine direkten Erfahrungen mit dem Bürgerkrieg gemacht oder eine an Krebs erkrankte Person begleitet haben. Auch für diejenigen, die kein Familienmitglied verloren haben. Mouawad gelingt es, eine Vielfalt an Themen zu verbinden, innerhalb derer sich viele Zuschauer*innen wiederfinden. Mir zum Beispiel sind die allgemeinen Herausforderungen des Erwachsenwerdens nur allzu gut bekannt, welche auch bei Wahab ein Thema sind.
„Eine Erfahrung erscheint uns näher, die andere ferner, aber man kann die eine durch die andere näher bringen.“ Patrick Balaraj Yogarajan im Interview mit Pressesprecherin Dr. Diana König
Mehr als eine Autobiographie
Mouawad gelingt ein poetischer Monolog, bei dem man einfach zuhören muss. Er hat eigene Erfahrungen eingearbeitet. Denn auch er erlebte als Kind ein Busattentat und musste mit seiner Familie vor dem Bürgerkrieg im Libanon fliehen. Außerdem verlor er wie Wahab seine Mutter, die an Krebs starb.
„Trotzdem ist das Stück nicht dokumentarisch oder schlicht autobiographisch, sondern bietet für das Publikum durch Mouawads berührende und durchdachte, poetische Erzählweise einen Brückenschlag über das Vertraute zum Fernen.“ Dr. Diana König
Wajdi Mouawad (*1968) leitet das Théâtre de la Colline in Paris. Am Theater Bremen wurde 2019 bereits sein Stück Vögel gespielt, welches ebenfalls Alize Zandwijk inszenierte. Mouawad hat sich dem Tragödiengenre verschrieben und erhielt im September 2020 den Europäischen Dramatiker*innenpreis. Die Preisverleihung wurde aufgrund der Corona-Pandemie allerdings aufs kommende Frühjahr verschoben.
Dank Mouawads Erzähl- und Yogarajans Schauspielkunst sowie der gelungenen Inszenierung verschwindet die Bühne und wir laufen mit Wahab durch den Schnee, stehen am Bett seiner Mutter. Wir spüren, was ihn innerlich bewegt. Und wir teilen seine Momente der Erkenntnis. Ein Erlebnis, das den eigenen Horizont erweitert.
Besetzung von Im Herzen tickt eine Bombe
mit: Patrick Balaraj Yogarajan
Regie Alize Zandwijk
Ausstattung Thomas Rupert
Licht Joachim Grindel
Dramaturgie Regula Schröter
Termine – Im Herzen tickt eine Bombe
Termine & Karten beim Theater Bremen:
Freitag, 30. Oktober 2020, 20:00 – 21:15 Uhr
Sonntag, 22. November 2020, 20:00 – 21:15 Uhr
Sonntag, 20. Dezember 2020, 15:00 – 16:15 Uhr
Hannah Lüdert
Schreibe einen Kommentar