Wir befinden uns im Speckgürtel der evangelikalen Christenheit, im Mittleren Westen und Süden der USA. In einem riesigen Raum der lokalen Gemeinde: runde Tische mit weißen, langen Tischdecken reihen sich neben buntem Blumengesteck. Gutes Essen wird serviert. Die weiblichen Gäste tragen allesamt die schönsten Kleider, die sie jemals in ihrem Leben getragen haben. Ein Diadem auf ihrem hochtoupierten Haar. Ihre männlichen Gefährten stecken im zurechtgemachten Anzug und geben ihnen glücklich einen Kuss. Bald legen sie ihre Gelübde ab und es werden Ringe ausgetauscht. Ein romantischer, inniger Tanz folgt. Alle feiern ausgelassen.
Ein Versprechen
Nein, hier handelt es sich nicht um eine Massenhochzeit (zumindest nicht im engeren Sinne). Wir befinden uns auf einem Purity Ball (dt.: „Reinheitsball“). Dort legen junge Mädchen, meist im Alter von 12 bis 17, ein Keuschheitsgelübde ab. Sie versprechen ihren Vätern Treue und Gehorsam bis zur Ehe. Manche kriegen während der Zeremonie ein Armkettchen mit Herzverschluss, dessen Schlüssel der Vater kriegt. Quasi ein Keuschheitsgürtel in modern und schick. Die deutsche Diplom-Psychologin Sandra Konrad schreibt dazu: „Das weibliche Geschlecht gehört dem männlichen – erst dem Vater, dann dem Mann.“
Ablauf eines Purity Balls
Die Zeremonie auf einem Purity Ball läuft unterschiedlich ab, beinhaltet jedoch meist dieselben Kernaspekte: Die Mädchen schwören und geloben bis zur Ehe „unbefleckt“ zu bleiben. Ihre Väter unterschreiben, dass sie ihre Töchter dabei unterstützen und beschützen werden. Manchmal werden Ringe ausgetauscht oder es gibt Armbänder. Manche berichten, dass auch der Vater ein Gelübde abzulegen hat: seiner Tochter ein gutes Vorbild zu sein, indem er ihre Mutter liebt und ehrt bis in alle Ewigkeit. Die Gründerin der Organisation Abstinence Clearinghouse Leslee Unruh sagt: „Der Vater gibt [im Gegenzug] das Versprechen, seine Seele rein zu halten.“ Neben der Treue zu seiner Frau, gehöre auch der Verzicht auf die sündigen Verlockungen der Pornografie.
Entstehung
Das ganze Prozedere ist seit 14 Jahren in 17 Ländern weltweit wiederzufinden. Es entstand in den USA in den späten 1980er Jahren als Antwort auf die sexuelle Befreiung. Vorerst nur als eigenes Versprechen vor Gott gedacht, entschied man sich in den späten 90er Jahren, neben dem geistlichen Vater im Himmel, noch den biologischen Vater auf Erden mit ins Boot zu holen – denn sicher ist sicher. Die jungen Mädchen können mitmachen, sobald sie menstruieren. Das ist gut, denn so weiß jeder bei der großen, kirchlich-öffentlichen Veranstaltung, dass die 9-jährige Tochter des Robert Millers von nebenan menstruiert.
Wirkungsvoll?
Der amerikanische Soziologe Anthony Paik führte 2002 und 2008 eine Studie mit Teenagerinnen durch. Er fand heraus, dass 6 Jahre später 18% der Mädchen, die kein Versprechen ablegten, schwanger waren. Der Prozentanteil der schwangeren Mädchen, die ein Reinheitsversprechen ablegten, lag bei 30%.
27% der „Purity-Mädchen“ wurden mit Geschlechtskrankheiten infiziert, da die einzige Aufklärung, die sie erhalten hatten, die der Enthaltsamkeit gewesen war. Unter der Bush-Regierung wurde aus staatlicher Tasche mehr als 1 Milliarde Dollar in christliche Keuschheitskampagnen wie Abstinence-Only oder True Love Waits investiert. Auch heute wird noch an vielen amerikanischen Schulen Enthaltsamkeit als einzige Verhütungsmethode gelehrt. Kein Wunder, dass die Anzahl ungewollter Schwangerschaften bei Jugendlichen ohne vernünftige Aufklärung so viel höher ist.
https://www.youtube.com/watch?v=3mhez8t8IFs
Selbstbestimmt?
Ich gehe davon aus, dass die 9-jährigen Mädchen noch nicht wissen, was sie auf einem Purity Ball versprechen und was das für sie später zu bedeuten hat. Aber abgesehen von den zu jungen Mädchen gibt es natürlich auch selbstbestimmte Frauen, die dem ganzen Liebeskummer und Herzschmerz entfliehen wollen und sich bewusst für ihr Versprechen entscheiden – wie die 17-jährige Rachel Moore im Video bei 6:38. Davon berichtet auch der schwedische Fotograf David Magnusson, der 2014 seine Portraitreihe ‚Purity‘ veröffentlichte:
„Viele der Mädchen wirkten stärker und unabhängiger, als ich es erwartet hatte. In vielen Fällen ging der Wunsch, bei der Purity-Bewegung mitzumachen, von den Mädchen aus. Einige Väter hatten vorher sogar noch nicht einmal von den Zeremonien gehört.“ – David Magnusson in Spiegel Online
Chiara Garbers
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