Es ist Mittwoch, kurz nach 10 und ich sitze in der neu eröffneten Bäckerei an der Domsheide. Meinen grünen Tee in der Hand, durchblättere ich nervös meine Notizen: Populisten, Nationalisten, Qualitätsjournalismus. Den Satz „Demokratie braucht Demokraten“ habe ich rot umrandet. So lautet das Motto, zu dem der Bremer Senat die Medien des Landes, neben hunderten Gästen aus allen gesellschaftlichen Bereichen, ins Rathaus eingeladen hat. Also auch frauenseiten.bremen.de. Und mich. Die neue Praktikantin.
Einlass trotz Deo Spray und fehlendem Namen?
Wie sich gerade herausgestellt hat, wird diese Praktikantin, also ich, alleine der Rede von Radio-Bremen-Intendant Jan Metzger zuhören. Das heißt, insofern man alleine sein kann inmitten zahlreicher Politiker. Neben den „Säulen des Landes“, wie man so schön sagt. Meine Begleitung ist jedenfalls nicht mit dabei. So steht es auf meinem Handy. Aber halt! Wie kann ich nun den Worten des Bürgermeisters und des Radio-Bremen-Intendanten lauschen, wenn meine „Greencard“, mein „Name“ nicht mit von der Partie ist? Bin ich doch selber nur die „Person+“?!
Unsicher darüber, ob ich überhaupt rein gelassen werde und den Gedanken nachhinkend, ob Deo Spray als mögliche Waffe eingestuft werden könnte (meine Club-Mate Flasche habe ich bereits vorsorglich zuhause gelassen), bewege ich mich auf das denkmalgeschützte Bauwerk der Gotik (so sagt Wikipedia) zu, vor dem bereits mehrere schwarze Mercedes parken. Ich sehe zwei Security-Männer vor der Tür stehen und denke mir, „ja, hier musst du richtig sein!“
Meine Handtasche bereits von der Schulter genommen, stelle ich mich seelisch auf die nun erfolgende Leibesvisitation ein. Nichts da! Bis auf ein Lächeln erwartet die Security nichts von mir: Kein freiwilliges Herausrücken von möglichen gefährlichen Gegenständen. Keine Auskunft über meine Identität.
Die Stufen zur Vergangenheit
Naja, spätestens vor der Tür der oberen Rathaushalle wird sich wohl jemand für den Inhalt meiner Tasche und für die Identität meiner Person interessieren, denke ich mir und schreite durch die große Holztür. Kaum ist die schwere Doppeltür ins Schloss gefallen, so stehe ich auch schon vor einer großen Treppe, die sich in der Mitte einer noch größeren Empfangshalle befindet. Diesen Anblick, so wird mir bewusst, teile ich mit Menschen aus dem 15., 16., 17., 18. (und so weiter) Jahrhundert. Genauso wie ich, sind diese Personen aus vergangenen Zeiten diese Stufen hinaufgestiegen. Diese Stufen, die gerade von zahlreichen Stöckelschuhen und frisch polierten Herrenschuhen erklommen werden. Auch von meinen, vom Regen in Mitleidenschaft gezogenen, weinroten Stiefeletten. Berauscht von meiner kleinen Zeitreise, komme ich in der oberen Rathaushalle an.
So, wo stehen nun die Personen, die mit ihrer Namensliste in der Hand darauf warten, mich des Gebäudes zu verweisen? Ich drehe mich umher, aber alles, was ich sehe, ist eine weit geöffnete Tür, die ins Innere der Rathaushalle führt. Was soll’s, denke ich mir, und folge dem Schwarm von festlich angezogenen Menschen ins Innere der Halle: Ich fasse es nicht! Kronleuchter und Modell-Kriegsschiffe hängen von der Decke, reich geschmückte Portale führen in angrenzende Räume und zwei riesige Gemälde, unter anderem von einem großen Wal, schmücken die hohen Wände.
„Genau so muss sich Geschichte anfühlen!“
Anthropologischer Ort oder Zwischenraum?
Immer mehr komm ich zu dem Schluss, dass es sich bei diesem Ort, um einen „anthropologischen Ort“ im Sinne von Marc Augé handeln muss: Um einen Ort, der von Geschichte, Identität und Relation gekennzeichnet ist. Die Wände dieses Raumes erzählen regelrecht von vergangenen Entscheidungen, die hier getroffen, von Verträgen, die hier geschlossen und von Recht, das hier gesprochen wurde. Doch, so beginne ich mich zu fragen, wenn es sich wirklich um einen solchen anthropologischen Ort handelt, warum erscheint es mir dann so, als ob ich innerhalb dieser Räume von meiner Identität befreit wäre? Handelt es sich in Wirklichkeit um einen Zwischenraum? Um einen Raum, der zwischen Geschichte und Gegenwart, zwischen festgeschriebener und dynamischer Identität und zwischen Relation und Losgelöstheit jeglicher Beziehungen steht?
Journalistische Werte von gestern und Technologien von heute
Verwirrt von meinen Gedanken, suche ich mir einen Sitzplatz. Ich erblicke Stühle, auf denen Namensschilder liegen. Meiner ist nirgends zu finden. Also nehme ich in der Mitte, direkt am Gang Platz. In mir wird das Verlangen geweckt, diese Geschichte gewordenen Wände fotographisch festzuhalten. Aber womit? Mit meinem Handy? Kann dieses neue Medium, dieses Medium aus der Jetztzeit und aus der Zukunft, der Vergangenheit gerecht werden?
Meine Sitznachbar*innen scheinen dies für sich zu bejahen. Mit ihren Smartphones in der Hand fangen sie nicht nur die Zeugnisse von vergangenen Zeiten ein, sondern auch die Jetzt-Zeit: Sie filmen, wie Radio-Bremen-Intendant Jan Metzger seine Neujahrsansprache hält. Sie filmen, wie er vor Rechtspopulist*innen warnt, die soziale Medien ausnutzen, um „Marketing durch Provokation“ zu betreiben. Die Strategie, durch gezielte Fehlinformationen und Emotionalisierung die Wirkung einer Botschaft zu multiplizieren. Sie filmen auch, wie er dafür plädiert, diesen neuen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen mit einer neuen Form des Journalismus zu begegnen. Einem Journalismus, der die journalistischen Werte von gestern mit den Technologien von heute kombiniert.
Mich in dem geschichtsträchtigen und identitätsbefreienden „Zwischenraum“ des Rathauses befindend und die Gegenwart durch das neue Medium des Handys wahrnehmend, macht auf einmal alles Sinn:
„Nur, wenn das Alte mit dem Neuen, die Vergangenheit mit der Zukunft verbunden wird, wenn Identität nicht als etwas statisches verstanden wird, dann kann die Gegenwart zu einer besseren werden.“
Die Raumerfahrung des Bremer Rathauses ist eine Verdinglichung dessen. Mit meinem Handy in der Hand und den alten journalistischen Werten im Herzen, mache ich mich auf dem Weg zur Onlineredaktion frauenseiten.bremen.de. Eine Redaktion, die sich der neuen Medien bedient, um einen Gegenpol zu statischen, einseitigen und gefährlichen Meinungen zu bilden.
Svenja Steenken
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