Es ist nie zu spät, um sich weiterzubilden, den Horizont zu erweitern und dazuzulernen. „Was weiße Menschen jetzt tun können“ von Emma Dabiri eignet sich dazu perfekt. Eine fantastische Kollektion radikaler Essays. Sie hinterfragt den Kapitalismus, das Konzept von „race“ und fordert Koalitionen anstatt „Allyships“. Emma Dabiri ist eine brillante Autorin und Rundfunksprecherin, deren irisch-nigerianischer Hintergrund dem Buch Komplexität und Vielschichtigkeit verleiht. Dieses vom Ullstein-Verlag veröffentlichte Buch hat mir auf mehreren Ebenen die Augen geöffnet und ich hoffe ich kann diejenigen, die es noch nicht gelesen haben, mit dieser Review überzeugen, es zu tun. Ihr verpasst etwas.
„Wir leben in einem System, in dem Ausbeutung und Ungleichheit fest verankert sind. Es zerstört nicht nur menschliches Leben, sondern vergiftet auch unsere Welt. Es zerstört auch dich, selbst wenn du nicht unmittelbar betroffen sein solltest: Wie dem auch sei, es wird auch dich einholen.“
Das Sachbuch ist wie ein Leitfaden. Er hilft einem, zu verstehen. Er fordert zum Hinterfragen auf. Emma Dabiri untersucht, wie der Rassismus im Kapitalismus verwurzelt ist und stellt fest, dass man diesen, solange man ihn nicht hinterfragt, nicht effektiv abschaffen kann. Sie kritisiert Online-Aktivismus, Generalisierungen und vieles mehr. Ihr Buch ist in 14 Kapitel eingeteilt und eines ist besser als das andere.
Wir brauchen mehr als Online-Aktivismus
Wer erinnert sich an die schwarzen Kästchen, die man als Solidaritätsbekennung zu „Black Lives Matter“ auf Instagram gepostet hat? Gegen genau so einen Online-Aktivismus spricht sich Dabiri aus. Das ist im Hinblick auf 2020 ein sehr radikaler Standpunkt. Ihrer Meinung nach reichen solche floskelhaften Bekenntnisse auf Social-Media nicht aus. Sie sind oft eher rein performativer Natur, als dass Menschen sich damit wirklich einen Wandel erhoffen. Solche Social-Media-Diskurse bleiben oftmals folgenlos, wirken eher wie eine Kommerzialisierung des Aktivismus‘ und dienen als Tool zur Selbstdarstellung. All ihre Argumente und ihre Schlussfolgerungen erscheinen logisch und ergeben Sinn, doch trotzdem habe ich noch nie vorher darüber nachgedacht. Emma Dabiri führt Konzepte und Ideen zugänglich und verständlich ein, sodass auch der komplexeste Gedanke nachvollziehbar wird.
Echte Koalition anstatt „Allyships“
Sie orientiert sich hierbei an Theorien von Fred Hampton, Barbara Fields und bell hooks. Allyships sind im Vergleich zu Koalitionen etwas oberflächiges und verstärken beziehungsweise reproduzieren das Narrativ der „verschiedenen Rassen“. Jedoch gibt es solche „Rassen“ gar nicht. Diese sind nämlich kein natürlich gegebenes Konzept.
„Es ist, ganz im Gegenteil, ein sozial konstruiertes Konzept, das mit einer bestimmten Absicht erfunden wurde: Unterwerfung.“
Solange uns dies nicht bewusst wird und wir kein Gegennarrativ haben, werden wir keine antirassistische Welt erreichen. Emma Dabiri fordert Koalitionen, die auf gemeinsamen Interessen und Zielen beruhen, denn „wir leben [alle] in einem System, in dem Ausbeutung und Ungleichheit fest verankert sind“. Diese Lektüre ist unverzichtbar für alle Menschen, die sich für den Fortschritt einsetzen wollen, aber noch nicht genau wissen wie.
Gibt es „Weißsein“?
Ein lang erhaltener und stark etablierter…Mythos. Laut Emma Dabiri dient dieser Mythos dazu, „behaupten zu können, alle ‚weißen‘ Menschen seien gleich, unabhängig ihrer Kultur, Nationalität, von ihrem Wohnort oder ihrer Klasse“. Das ist seine wahre Funktion. In dem Konzept des „Weißseins“ ist eine Überlegenheit eingebettet, es ist jedoch keine biologische Gegebenheit. Das muss einem bewusst werden und durch Emma Dabiri wird es das. Nur weil bestimmte Konzepte allgegenwärtig sind, bedeutet das nicht, das diese nicht dringend hinterfragt werden müssen.
Ihre Diskussion der Etiketten „weiß“ oder „schwarz“ und ihre Forderung nach einer Abschaffung dieser hat mir die Augen geöffnet. Emma Dabiri spricht Themen an, vor denen ich mich davor zurückgezogen habe. Sie bietet eine scharfe aber definitiv relevante Kritik rassistischer Kategorisierungen, insbesondere der Annahme, dass „Weiße“ die Standardnorm sind. Aufgepasst, das sind sie nicht!
„Wenn Weißsein als ’nicht der Andere sein‘ und die Unterordnung dieses Anderen definiert wird, dann ist eine Umkehrung des Status zutiefst bedrohlich für die Identität einer Person.“
Sie untermauert ihre Behauptung durch fundiertes historisches Wissen. Dadurch wird deutlich, dass eben dieses Konzept von „weißen“ und „schwarzen“ Menschen entstand, um als „schwarz“ rassifizierte Menschen zu entmenschlichen. Es war ein Weg, die unmenschliche Ausbeutung von „schwarzen“ Arbeitskräften zu rechtfertigen. Und das ins „Weißsein“ kodierte Überlegenheitsgefühl hat sich bis heute gehalten. Wenn man das verstanden hat, kann man für eine bessere Welt kämpfen. „Wir müssen das Weißsein sichtbar machen, es benennen, es einrahmen, um es zu demontieren.“ Das „Weißsein“ muss dezentriert werden. Das ist zwar ein mühsamer Prozess, aber Dabiri lässt erste Schritte und Forderungen mit in ihr Buch einfließen. Wir müssen Koalitionen aufbauen und Klassenbündnisse gründen. Wir müssen lernen, zu verstehen, dass wir uns als Einheit über „Rassengrenzen“ hinwegsetzen müssen, um Diskriminierung zu bekämpfen. Das sind alles große und komplexe Vorschläge, doch Dabiri erklärt sie den Leser*innen verständlich und zugänglich.
Viel mehr als nur ein Wirtschaftssystem
Kapitalismus. „Kapitalismus ist wie ‚Weißsein‘ ein alles durchdringender Organismus. […] Es genügt nicht, eine ausbeuterische Ordnung inklusiver zu gestalten.“ Emma Dabiri bringt es wieder mal auf den Punkt. Kapitalismus ist ein Wirtschaftssystem, welches von Ausbeutung profitiert und nur dadurch aufblühen kann. Dies wird durch die Form des Lohnes einfach nur verschleiert. Dabiri bringt den Leser*innen bei, Verknüpfungen zu sehen. Rassismus und Kapitalismus sind keine eigenen, unabhängigen Maschinerien, sondern stehen in ständigem Kontakt zueinander. Sowohl Kolonialismus als auch die Entstehung von „race“ sind eng miteinander verbunden. Und nur, wenn mensch das versteht, kann mensch es auch effizient bekämpfen. Wie will man etwas bekämpfen, wenn die Reichweite und Dimension des Problems nicht einschätzbar ist?
„Ich glaube, mit Sicherheit behaupten zu können, dass antirassistische Initiativen oder Allyships, die kapitalistische Zwänge – ganz zu schweigen von den damit verbundenen tiefen psychologischen Aspekten, die das ‚Weißsein‘ fördern – außer Acht lassen, höchstwahrscheinlich erfolglos sein werden.“
Liebeserklärung
Es ist so schwierig, ein Buch zusammenzufassen, wenn mensch so viele Gedanken dazu hat. Und das ist bei „Was weiße Menschen jetzt tun können“ der Fall. Es ist ein Sachbuch, in das man sich verliebt und Emma Dabiris wundervoller Schreibstil trägt maßgeblich dazu bei. Ein pädagogischer Essaystil, verknüpft mit umgangssprachlichen Redewendungen, ermöglicht es, sich auf ihre radikalen Ideen und Konzepte einzulassen. Mit ihrem Buch fordert sie echte Koalitionen und Zusammengehörigkeit und durch ihre zugängliche Sprache schafft sie genau das.
„Nicht zu wissen, was das Richtige ist, oder vielleicht sogar die Angst vor Scham, kann Menschen davon abhalten, einen nützlichen oder notwendigen Beitrag zu leisten.“
Das Sachbuch ist eines, das dich aus deiner Comfort-Zone herausdrängt, eines, das in dir Fragen aufwirft, die du dir nicht stellen möchtest, aber genau das ist notwendig, um die langersehnte Gleichheit zu erreichen. Wir müssen lernen, über den Tellerrand hinauszuschauen, sei es, von „Allyships“ zu echten Koalitionen zu wechseln oder zu verstehen, dass „der Scheiß uns auch tötet“. Wir sind alle die Produkte eines unmenschlichen Systems und wir müssen verstehen, dass wir nicht „weniger privilegierte“ Menschen unterstützen, sondern für GEMEINSAME Interessen kämpfen sollten. Es ist etwas, was uns alle betrifft. Emma Dabiri geht es um Koalitionen, die Solidarität ermöglichen, ganz ohne die „andere“ Person vollständig verstehen zu müssen. Es genügt schon, wenn man über gemeinsame Ziele nachdenkt, wie eine gerechtere Ressourcenverteilung oder Schulbildung für alle. Wenn ihr nach einem tollen Geschenk für eure Freund*innen oder Eltern sucht oder euch selbst beschenken wollt – das Buch ist perfekt. Unterstützt eure lokalen Buchläden und holt euch „Was weiße Menschen jetzt tun können“!
Lina
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