“TW/Inhaltswarnung: Dieser Artikel könnte triggern und sehr unangenehme Gefühle hervorrufen. Die Inhaltswarnung bezieht sich auf Homofeindlichkeit.”
Ich war mit meinem Freund eineinhalb Jahre zusammen, als er mir endlich erzählen konnte, dass er auch auf Männer steht. Der langjährige Partner meiner Freundin gestand ihr erst nach zwei Jahren inniger Beziehung, dass er eigentlich gelernter Florist ist. Wenn sie jetzt denken ich bin verklemmt und meine Freundin eine Flora und Faunagegnerin, dem ist überhaupt nicht so. Wir sind empathische Menschen und haben beide unseren Partnern immer Halt, ein Ohr und Vertrauen geschenkt. Es waren nicht wir der Grund, dass sie so lange brauchten, um endlich offen zu reden. Es waren die riesigen Mauern die sie durch soziale Zwänge, Gesellschaft und Scham über Jahre aufgebaut hatten und sie daran hinderten offen und ehrlich zu sein. Als Mann etwas scheinbar „unmännliches“ zu tun oder sein, ist aus meiner weiblichen Perspektive anscheinend eine Demütigung deiner Selbst. Mann lernt diesen Part an sich zu hassen und wegzustoßen, eine bestimmte Fähigkeit wieder zu verlernen oder so lange leugnen bis er seine eigenen Lügen anfängt zu glauben. Ich will mir nicht vorstellen wie viele Männer so etwas schon mit ins Grab genommen haben, der ganzen Welt unwissend gegenüber.
Mein Freund schämte sich für seine Sexualität, er wusste seine Freunde, wie auch Familie würden ihn anders behandeln und wären regelrecht enttäuscht, sobald sie es erfahren. Ein Jahr lang habe ich mich über seine homofeindlichen Aussagen aufgeregt, wir haben uns so sehr gestritten, sodass wir tagelang nicht miteinander redeten. Als unsere Beziehung dann auf der Kippe stand, und ich meinte er verheimlicht mir irgendwas, redete er endlich und bewies mir, er ist eigentlich das Gegenteil von dem was er vorgab. Seine Rolle als ultramännlicher homofeindlicher Mann, sowie Soldat, hatte er gut eingeübt und so gut auswendig gelernt, dass es er kurz davor war dies überhaupt nicht mehr zu spielen, sondern diese Person zu werden.
Er wurde durch sein Umfeld und das Militär in einen so engen Käfig gepresst, der so klein ist, dass sein wahres Ich dort kein oder nur minimal Platz hat.
Wie kommt es, dass fast alle die Geschichte vom emotional verkümmerten Vater kennen? Ich als Tochter kaum mit meinem Vater über Gefühle oder gar Beziehungen rede? Nein, da bleibt alles simpel, eher vor vollendete Tatsachen stellen als über Unsicherheiten und Ängste zu reden. Einmal im Jahr sagen wir uns in ungewohnter Stimmlage „hhab dich lieb..“. Abgesehen davon habe ich ihn noch nie weinen sehen, selbst als seine Eltern starben, hat er vor mir und unserer Familie keine Träne fließen lassen. Als Mann soll er alles unter Kontrolle haben. Immer Stärke zeigen, nie Schwäche. Wobei ich Verletzlichkeit zeigen als ungemeine Stärke ansehe. Die Gitter in seinem Käfig aus scheinbarer Männlichkeit lassen nur wenig Luft um Zuneigung zu zeigen. Er fragt mich nicht „Wie geht es dir wirklich?“ oder „Bist du glücklich?” Sondern ob ich die Nachrichten schon gesehen hab, um die neusten politischen Themen zu diskutieren. Ich habe ihm nie von der fluiden Sexualität meines Freundes erzählt, denn er respektiert queere Menschen nicht, und akzeptiert sie nur schweigend. Plötzlich hatte ich mich an eine neue unscheinbare Realität gewöhnt, die besagte, dass ich es ihm nie erzählen werde und ebenso in mein Grab mitnehmen würde. So oft ich mich über das Patriarchat aufgeregt habe, merkte ich, dass Männer genauso unter patriarchalen Strukturen leiden können, bezogen auf die Karriere nicht jedoch zwischenmenschlich und emotional. Ich bin der Meinung, wir als Gesellschaft, müssen mehr darüber sprechen. Solange Probleme nicht intensiv benannt werden, sehen viele sie meistens nicht und können auch keine Lösungen finden. Sowie mein Vater seine Gitter nicht sehen kann und eventuell nicht sehen will, jedoch ich ungemein, denn ich interagiere mit ihm immer wieder und versuche meine Hand durchzureichen. Trotzdem trägt er wie alle Männer eine Selbstverantwortung in dieser Welt den Status Quo zu hinterfragen und nicht stillschweigend sitzen zu bleiben.
Ich möchte in eine Welt blicken, in der ich vom besagten Floristen Blumen kaufe, sie meinem Freund schenke, der sich darüber freut und stolz er selbst ist.
Milja
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