Die Autorin Kübra Gümüşay hätte ihr neuestes Buch Sprache und Sein mit allem Möglichen beginnen können. Mit der Schilderung all’ der Morddrohungen, die sie erhält. Mit ihren unzähligen Erfahrungen bezüglich Sexismus und Rassismus. Mit einer theoretischen, wissenschaftlichen Abhandlung der Begriffe, mit denen sie sich auseinandersetzen will.
Yakamoz
Stattdessen wählt sie ein Erlebnis aus, das gleichermaßen sanft und zauberhaft ist. Direkt auf der ersten Seite wird geschildert, wie Kübra Gümüşay als Kind gelernt hat, dass es im Türkischen einen eigenen Begriff dafür gibt, die Reflexion des Mondes auf Wasser zu benennen. Yakamoz.
Bereits dieser zarte Beginn lässt vermuten, um was für ein intensives Buch es sich bei Sprache und Sein handelt.
Ein Buch für alle
Und tatsächlich hinterlässt die außergewöhnliche Lektüre aus unterschiedlichen Gründen einen tiefen Eindruck. Etwas wirklich Besonderes ist Kübra Gümüşays Sprachstil – mal witzig und mal ernst – welcher sich konsequent durch das ganze Buch zieht. Es ist egal, ob sie über Rassismus schreibt, über Medienkonsum oder über die Gedichte aus ihrer Kindheit, Kübra Gümüşay schreibt immer so, dass man in die Sätze eintauchen kann, dass man versteht, dass man mitdenkt. Anspruchsvoll – das ist ihr Buch definitiv, und dennoch schafft sie es, so zu schreiben, dass der Schreibstil nicht nur Wissenschaftler*innen und Akademiker*innen anspricht, sondern eine sehr breit gefächerte und vielfältige Leser*innenschaft.
Sprache und Sein – Wie hängt das zusammen?
Inhaltlich setzt sich Kübra Gümüşay mit Sprache auseinander: Wie sie uns formt, wie sie unser Verhalten beeinflusst, unser Denken, unser Handeln. Unser Sein. Dabei wird deutlich, dass der Gebrauch der Sprache mit einer immensen Verantwortung verknüpft ist. Einer Verantwortung, der nicht alle gewachsen sind. Oft kommt es durch entsprechenden Sprachgebrauch zu Machtmissbrauch.
Die Verantwortung der Medien
Als Beispiel hierfür nennt Kübra Gümüşay die Medien, welche teilweise absichtlich instrumentalisieren und bereits bestehende Gräben der Gesellschaft bezüglich Migration oder Armut gezielt vergrößern. Ihre Erfahrungen bezüglich Talkshows und der abgekarteten Spiele, als welche diese sich häufig entpuppen, öffnen hierbei wirklich die Augen.
Ich war Anfang zwanzig, als mich eine öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt zu einer Fernsehdebatte einlud. Der Titel war schön knallig. Eine Prise Islam hier, eine Prise ‚Deutsche Leitkultur‘ da. Eigentlich hätte ich absagen sollen.
Benannte und Benennende
Doch nicht nur die Medien tragen Verantwortung, sondern jede*r einzelne*r von uns. Es geht darum, zuzuhören, hinzuhören, und vor allem den Menschen hinter den Worten zu sehen. Dass es daran oft mangelt, verdeutlicht Kübra Gümüşay durch ein eindrucksvolles Bild. Dabei beschreibt sie die Privilegierten, Machtvollen dieser Welt als die Benennenden und die anderen als die Benannten. Sie selbst als kopftuchtragende junge Muslimin fühlt sich in vielerlei Hinsicht als Benannte.
Die Benannte kämpft darum, sich selbst benennen zu dürfen.
Nicht mehr sein als eine Kategorie
Deshalb beklagt Kübra Gümüşay in ihrem Buch, wie verletzend es ist, ständig von anderen Menschen in Kategorien unterteilt und eingesperrt zu werden. Oft fühlt sie sich auch in ihrer Sprache eingeschränkt, dadurch, dass sie nur auf ihre Kategorie begrenzt wird. Die Benennenden erlauben ihr, über den Islam zu sprechen, über die Unterdrückung der Frau, über Terrorismus, nicht jedoch über die Themen, die sie ausmachen. Sie als Mensch. Nicht sie als Benannte, als Muslimin.
Meine Aufgabe war die einer intellektuellen Putzfrau.
Was können wir tun?
Doch was ist die Lösung? Eine Welt ganz ohne Kategorien, ohne Benannte und Benennende, ohne machtmissbrauchende Medien und unterdrückte Minderheiten? Ja, das wäre das Ideal, doch es ist eine Utopie. Was die Leser*innen laut Kübra Gümüşay jedoch jetzt schon machen können und sollten für eine bessere und gerechtere Welt, das ist eigentlich ganz einfach.
Reflektieren wir mehr, seien wir achtsamer, seien wir uns der Macht unserer Worte bewusst und hinterfragen wir unsere Privilegien.
Wir brauchen Orte, an denen wir die Zukunft ausprobieren, an denen wir ein neues Sprechen üben können: zweifelnd, nachdenklich, hinterfragend, mal laut, mal leise – und immer mit Wohlwollen.
Franka Billen
Kübra Gümüsay
Sprache und Sein
Hanser Literaturverlage
Hardcover
ISBN: 9783446265950
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