Dass Spröde Lippen alles andere als unangenehm und viel mehr ein Heilmittel für trockene Ohren sind, zeigt die Bremer Band rund um die vier Musiker*innen Anne, Lotta, Josi und Sina. Wir haben uns mit dem Quartett über Punk als Haltung des Musikmachens, „Sprödismus“ als widerständiges Konzept, Musik der Musik willen, Sexismus in der Musikszene und über ihr zehnjähriges Jubiläum in Zeiten von Corona unterhalten.
Punk als Haltung des Musikmachens
Jahrelanger Instrumenten- und Gesangsunterricht, das sind die üblichen Schritte, die meist der Gründung einer Musikband voraus gehen.
Nicht so bei der Bremer Band Spröde Lippen. Bevor die vier Freund*innen „formvollendet“ Instrumente spielen konnten, stand vor allem der Wunsch, erstmal eine Band zu sein:
„Ja, eigentlich wollten wir nur eine Band sein. Wir konnten eigentlich auch alle nicht so richtig Instrumente spielen, alle nur so ein bisschen. Das war aber auch cool, weil wir Lust hatten, das trotzdem einfach zu machen. Wir mussten nicht, um Musik zu machen und Spaß mit anderen Leuten daran zu haben, total versiert ein Instrument spielen können. Deswegen war es auch so eine Spur Punk.“
Ganz gemäß dem Punk-Kredo „gegen bekannte Ordnungssysteme“ war es dann auch nicht verwunderlich, dass weit bevor die Songs fertig geschrieben waren, der erste Auftritt bereits (selbst- organisiert) in den Startlöchern stand. Spröde Lippen sehen sich in ihrer Haltung zum Musizieren sowohl von ihren linkspolitischen, künstlerischen Lebenszusammenhängen als auch von den Pop-, Punk-, Avantgarde-Bands wie den Lassie Singers, Malaria! und Moldy Peaches beeinflusst. Das genreübergreifende Experimentieren, der Dilettantismus, der Ungeahntes hervorbringt und bestehende Konventionen auflöst, hat Spröde Lippen mit der Subkultur der 80er Jahre „Geniale Dilletanten“ gemeinsam.
„Sprödismus“ als widerständiges Konzept
Der Bandname Spröde Lippen, der mit der Erwartungshaltung von weiblicher Sinnlichkeit bricht, deutet ebenfalls auf eine gezielte Provokation hin. Tatsächlich war der Name vorerst dem Umstand geschuldet, dass eine Musiker*in schlicht und ergreifend spröde Lippen hatte. Doch der Name ist geblieben, aus gutem Grund:
„Der Name ist erst aus Spaß entstanden und dann hat er irgendwann ganz gut für uns gepasst. Weil er ausdruckt, nicht dem Frauenbild, was mit dieser Zartheit zu tun hat, zu entsprechen. Halt eben nicht flexibel, nicht angepasst sein. Brüchig sein und nicht all das, was mit Frau sein verbunden ist, zu entsprechen und auch insgesamt den Erwartungen etwas entgegenzuhalten.“
Mit der Zeit hat die Band daraus das Konzept des „Sprödismus“ entwickelt:
„Sprödismus ist dann so eine Art Konsens geworden, dass wir alle einfach nicht so richtig passen und auch nicht angepasst sein möchten.“
Musik der Musik willen
Dennoch ist es nicht das primäre Ziel der Spröde Lippen, ein Sprachrohr für bestimmte Thematiken zu sein. Sie machen Musik der Musik willen. Und das ganz unmittelbar aus dem Leben heraus:
„Wir holen die Worte da ab, wo sie passieren. Ganz viele Texte entstehen genau um uns herum. Wir greifen uns ganz oft einzelne Sätze heraus, wie zum Beispiel von einem Werbeplakat. Die Inspiration holt man sich schon am meisten, wenn man draußen rumläuft und andere Menschen trifft. Wie zum Beispiel in der Kneipe. Und auf einmal sagt irgendwer einen Satz der so großartig ist, dass man den am besten sofort aufschreiben muss.“
Einer dieser Sätze aus dem Leben ist zweifelsfrei „Der Drops ist gelutscht“. Zusammen mit der Redewendung „Ich werde heut nicht mehr alt“ bildet er den einzigen textlichen Bestandteil des Songs „Drops“, der trotz seiner inhaltlichen Wiederholungen alles andere als eintönig klingt.
Der Song „Es lebt“ weist da schon mehr Zeilen auf. So heißt es beispielsweise:
„Wenn man junge Erbsen im Regal vergisst / werden sie / irgendwann alt / es lebt, es lebt, es lebt, es lebt … / junges Gemüse / wird altes Gemüse“.
Verhandelten Spröde Lippen ursprünglich die Thematik um Leben und Tod, scheint er doch ausgesprochen gut in die heutigen Lebensumstände junger Erwachsener zu passen, die in Zeiten von Corona in Vergessenheit geraten.
Musik für alle
Den Interpretationsspielraum ihrer Songtexte wollen Spröde Lippen offenlassen, denn sie machen nicht nur Musik aus dem Leben heraus, sondern vor allem auch ins Leben hinein:
„Das finde ich auch nochmal wichtig bei Kunst, dass es genau diese vielfältigen Interpretationen auch anregt. Ich finde auch, dass es ziemlich gut läuft, dass es genau diese Form von Offenheit hat. Dass es den Leuten auch das bietet, was zu ihrem Leben passt.“
Der Song „Einstellungen“ ist hinsichtlich seines Bedeutungsspielraums jedoch recht eindeutig. Er verhandelt den Optimierungsdruck innerhalb der Gesellschaft: „Ich habe neue Einstellungen gefunden / und sehe mich schon vor mir / bessere / perfektere / gängigere / mutigere / sichere / konstruktivere / kreativere / individuellere / normalere / schönere / bessere / Einstellungen /viel besser als / die ganzen anderen Einstellungen“.
Dass die inhaltliche Bedeutung dieses Songs in ihren Live-Auftritten kurioserweise zum Programm wird, macht den Charme der Band aus:
„Der Song hat auch ein Improvisations-Korsett, wo wir dann auch ziemlich frei sind, immer wieder neue Einstellungen auszuprobieren innerhalb dieses Songs. Natürlich hat er jetzt auch eine Struktur mittlerweile gefunden, aber wir sind halt echt frei und hören auch noch immer aufeinander. Was passiert jetzt bei ihr, was passiert bei ihr. Das ist bei diesem Song ganz besonders so. Hinterher denken wir immer, ach cool, ich habe grad neue Einstellungen gefunden.“
Ein weiteres Beispiel für den rebellischen Esprit und den Do-it-Yourself-Gedanken der Band ist die Aktion, in der sie kurzfristig von der Profession der Musiker*in in die der Parkettschleifer*in umsatteln: Um die Aufnahme ihres Albums „Schleifen“ im sagenumwobenen Studio Nord Bremen zu finanzieren, hat das Quartett kurzerhand den 120 m² Parkettboden des Aufnahmesaals geschliffen. Relikt dieses einzigartigen Moments in der Bandgeschichte der Spröde Lippen ist nicht nur der Name des Albums, sondern auch das Albumcover, welches aus dem original Schleifpapier genäht ist.
Sexismus in der Musik-Szene
Doch auch Spröde Lippen sind mit sexistischem Verhalten innerhalb ihrer Musikszene konfrontiert. Dieses sehen sie klar in fehlender Kritik an Geschlecht und dessen Bedeutung begründet. So schildern sie vielfältige Situationen mit mansplaining:
„Mir wurden, ohne zu fragen, ob ich es gerade überhaupt hören möchte, beziehungsweise was meine Motivation beim Schlagzeugspielen ist, sämtliche Sachen erklärt. (…) Mischer, die gedacht haben, sie wissen gerade besser, wie alles funktioniert und uns dann teilweise auch rein gegriffen haben in unsere Instrumente.“
Auch kritisieren sie, über die Kategorie des Geschlechts und den ihr innewohnenden Stereotypen definiert zu sein:
„Egal, was für eine Atmosphäre wir auf der Bühne erzeugt haben, kriegten wir gespiegelt, dass es süß sei. Überhaupt als „Mädchen-Band“ verhandelt zu werden mit der impliziten Verniedlichung, die dabei ist. Also das werden wir glücklicherweise schon länger nicht mehr, aber wurden wir schon in den Anfängen. Geschweige denn über so etwas wie Geschlecht definiert zu werden, ohne dass es darum ging, was machen wir eigentlich musikalisch.“
„Oder irgendwelche Begegnungen, wo ich erzähle, ich bin in einer Band und die erste Frage ist: Ach so, du singst?!“
Dass Frauen im Musikbusiness und Menschen egal welchen Geschlechts eben nicht ausschließlich Sänger*innen, sondern auch Schlagzeuger*in, Gitarrist*in, Tonmischer*in, Musikproduzent*in et cetera sein können, dafür stehen Spröde Lippen. Sie formulieren klare Wünsche für eine diversere, offenere Gegenwart in der Kreativ- und Unterhaltungsbranche:
„Mehr Frauen! Weniger Sexismus. Nicht nur mehr Frauen, sondern weniger eine gewisse Form von Dominanz im männlichen Habitus. Insgesamt muss die Musikszene mehr gequeert werden. Also nicht nur explizit cis-Frauenidentitätssachen machen, sondern eine Offenheit zu haben für Non-Binarys, Trans-, Inter-Personen und so weiter. Wir brauchen eine Selbstverständlichkeit in der Bühnenpräsenz. Was jegliche Positionen im gesamten Produktionsprozess angeht. Das muss sehr viel offener gestaltet werden und es müssen mehr Geschichten erzählt werden und mehr Lebenswirklichkeiten zum Tragen kommen.“
Zehnjähriges Jubiläum zu Corona-Zeiten
Was die nahe Zukunft der Spröde Lippen angeht, sieht der Horizont rosig aus. Dieses Jahr feiern die vier Wahl-Bremer*innen ihr zehnjähriges Jubiläum. Die vor Corona-Zeiten geplante Gala mit befreundeten Bands und Freund*innen fällt zwar aus, doch gefeiert wird der Meilenstein in der Bandgeschichte der Spröde Lippen trotzdem: Mit einer neuen Platten und einem Künstler*innenbuch. Erstere wird höchstwahrscheinlich noch dieses Jahr das Licht einer hoffentlich diverseren Musikwelt erblicken. Wir können es kaum erwarten!
Svenja Steenken
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