Von einem Tag auf den Anderen ist alles anders. Die Alltagsroutine, die Gespräche mit Kolleg*innen am Arbeitsplatz, das Vereinsleben und Miteinander in der Freizeit, alles ist weg. Nachbar*innen sitzen plötzlich tagtäglich zuhause, statt sich auf den Weg zur Arbeit zu machen. Nein, das ist keine Erzählung aus Zeiten der aktuellen Corona Pandemie. Das ist der Zustand, welchen Marie Jahoda vor nun 87 Jahren erforscht hat. Wie reagiert eine Gesellschaft, wenn plötzlich alles anders ist? Wenn die Arbeit nicht mehr da ist und das soziale Leben bröckelt? Und wie wird das gemessen? Damit befasste sich Jahoda in ihrer Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“.
Aufgrund ihrer Forschung wurde sie weltweit bekannt und als Pionierin der Sozialpsychologie betitelt. Doch Marie Jahoda war noch mehr als das. Sie war eine Rebellin, im Widerstand gegen das NS Regime, und eine Lehrerin, die ihr Wissen an viele Generationen weitergab.
Der ambitionierte Anfang
Doch Jahodas Leben begann unspektakulär. 1907 wurde sie in Wien geboren und wuchs dort in einer bürgerlichen, jüdischen Familie auf, schreibt Reinhard Müller in seiner Biografie über Marie Jahoda. Während ihrer Schulzeit engagierte sie sich in einem sozialdemokratischen Jugendverein und leitete mit 17 Jahren dort bereits eine Jungendgruppe. Ein Engagement, dass sie bis an ihr Lebensende weiterführen würde und welches noch auf viel Widerstand stoßen sollte.
Doch anfangs verlief ihr Leben in normalen, wenn auch engagierten Bahnen: Sie schloss mit 19 ihre Matura ab, welche gleichwertig mit dem deutschen Abitur ist. Jahoda heiratete im gleichen Jahr ihren ehemaligen Lehrer, Paul Lazarsfeld. Die Ehe hielt für acht Jahre. In den folgenden Jahren schloss sie eine Ausbildung zur Volksschullehrerin ab und studierte gleichzeitig an der Universität Wien Psychologie. Zusätzlich dazu arbeitete Jahoda ebenfalls in einem Beratungszentrum für Schüler. Und mit 23 Jahren kam dann ebenfalls ihre Tochter zur Welt. Und nur ein Jahr später begann Marie Jahodas Forschung zu ihrer größten Arbeit.
Die Pionierin
Ein Jahr bevor sie ihre Doktorarbeit abschloss, 1931, begann Marie Jahoda mit einigen Kolleg*innen ihre berühmteste Studie. Zu dem damaligen Zeitpunkt war es jedoch nur eine Forschungsreise wie jede andere. Untersucht wurde das Marienthal, ein Dorf in Österreich, welches sich um eine Textilfabrik herum gebildet hatte. Dementsprechend wohnten dort auch größtenteils Arbeiter*innen dieser Fabrik und ihre Familien. Das Leben im Marienthal blühte. Viele Menschen verband der gemeinsame Arbeitsplatz und so bildeten sich unter den Arbeiter*innen Sport- und Kulturvereine. Die Tage nahmen ihren gewohnten Gang, mit dem Anfang des Arbeitstages am Morgen, der Mittagspause und dem Ende der Arbeit. Ab und an wurde der Abend dann noch im netten Beisammensein bei einer der vielen Freizeitbeschäftigungen verbracht.
Dieser Alltag endete mit der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre. Die Textilfabrik des Marienthals wurde geschlossen und plötzlich war der Großteil des Dorfes arbeitslos. Und mit der Arbeitslosigkeit kam der Zerfall des Lebens wie die Bewohner*innen es kannten. Armut breitete sich aus und das soziale Leben verschwand durch die existenziellen Sorgen, berichtet Jahoda in ihrem Werk.
Kreative Methoden
Es war ein Phänomen, das Jahoda und ihre KollegInnen faszinierte. Zusammen mit ihrem Mann, Lazarsfeld, Hans Zeisel und einem Forschungsteam, untersuchte sie die Auswirkungen der plötzlichen Arbeitslosigkeit und Armut. Hierbei wurde Jahoda besonders durch ihren kreativen Forschungsansatz bekannt. Denn die damaligen Methoden stellten sie in dieser Situation vor eine schwierige Entscheidung. Bis dahin wurde in der Regel entweder mit einem Blick auf die einzelnen Menschen, oder mit einem Blick auf die Gesellschaft geforscht. Aber die Armut war zum einen etwas, was die ganze Gesellschaft betraf. Zum anderen, war es auch eine Situation, welche die Menschen selbst ganz unterschiedlich veränderte.
Die Lösung: Marie Jahoda kombinierte die beiden Forschungsarten miteinander. Ihre Methoden waren kreativ und absolut unkonventionell. Einerseits wurden Anwohner*innen unpersönlich gemessen und kategorisiert. So setzte sich Jahoda beispielsweise mit ihren Kolleg*innen in ein Café am Marktplatz und maß, wie lange eine Person zum Überqueren brauchte. Die Arbeitslosen hatten eine höhere Tendenz zum Schlendern und Zeit vertrödeln auf dem Marktplatz, wie sich herausstellte. Statt sich im Kultur- oder Sportverein zu treffen wie bisher, wurden die Freizeitaktivitäten kaum mehr wahrgenommen. So blieben meist nur diese zufälligen Begegnungen auf dem Marktplatz als verbleibende Form des Kontakts, zu der sich die Bewohner*innen aufraffen konnten.
Andererseits befragte die Sozialpsychologin auch Anwohner*innen konkret zu ihrem neuen Alltag, um die Kategorien besser bilden zu können. Dank dieser Methode entstand ein klares Bild zu den Reaktionen der Anwohner auf die Arbeitslosigkeit und Armut. Dies wäre sonst nicht möglich gewesen. Marie Jahodas Studie wurde 1933 veröffentlicht und in viele Sprachen übersetzt, sowie verfilmt.
Die Rebellin
Die Freude über die Bekanntheit ihrer Arbeit wurde jedoch bald von neuen Ereignissen überschattet. 1934 wurde die sozialdemokratische Arbeiterpartei in Österreich verboten. Als Reaktion darauf bildeten die Sozialdemokrat*innen die Untergrundbewegung „Revolutionäre Sozialisten“, welcher sich Marie Jahoda anschloss. 1936 wurde sie deshalb verhaftet und für 9 Monate festgehalten. Dies sorgte für internationale Proteste.
Dank ihrer Forschung besaß sie in vielen Ländern ein hohes Ansehen. Jahoda wurde mit der Auflage freigelassen, das Land zu verlassen und ihr wurde die Staatsbürgerschaft aberkannt. Daraufhin wanderte die Wissenschaftlerin nach England aus, wo sie während des 2. Weltkrieges für den sozialdemokratischen Radiosender „Radio Rotes Wien“ berichtete.
Die Lehrerin
Nach dem Ende des Krieges zog Jahoda in die USA, um dort an der heutigen „New School for Social Research“ als Professorin für Sozialpsychologie zu unterrichten. 1958 zog sie dann zurück nach England, um erneut zu heiraten und als Dozentin für Psychologie und Professorin für Sozialpsychologie viele weitere Generationen zu inspirieren. Letztendlich starb Marie Jahoda 2001 in Sussex, nachdem sie für fast ein ganzes Jahrhundert die Welt um sie herum beeinflusste.
Für ihre Forschung wurden ihr viele Auszeichnungen und Anerkennungen verliehen. Hierzu zählt unter anderem die Ehrendoktorwürde der Universität Bremen im Jahr 1985. Diese wurde im gleichen Jahr vergeben, in welchem die Universität auch ein Forschungszentrum für Ungleichheit und Sozialpolitik gründete. Außerdem reiht sich in die Liste der Auszeichnungen ebenfalls das Große Silberne Ehrenzeichen für Verdienst um die Republik Österreich ein. Außerdem wird seit 1994 Jahoda zu Ehren ein Lehrstuhl für Frauenforschung an der Ruhr-Universität Bochum für Gastprofessuren vergeben. Ob in der Wissenschaft, der Politik oder der Lehre, Marie Jahodas Kreativität, Ehrgeiz und Tatendrang haben Wellen geschlagen, die die Welt bewegten.
Sarah Hamer
Schreibe einen Kommentar