Eine Backpacking-Tour durch Indien hat Anfang der 1990er das Leben der jungen Hessin auf einen ganz neuen Kurs gelenkt. Gerade fertig geworden mit der Schauspielausbildung hatte sie eigentlich vor, ein Fotografie-Studium in Rom anzutreten. In der indischen Stadt Benares (heute Varanasi) sitzt Stella an einem Tag ihrer Reise gerade mit Bauchschmerzen auf einem Treppenabgang zum Ganges, als ein Bettler mit weißen Haaren und verstümmelten Händen und Füßen sie anspricht. Als Leprakranker gehört dieser alte Mann in Indien zur Kaste der “Unberührbaren”. Er gilt als „unrein“ und wurde von der Gesellschaft ausgeschlossen, von der eigenen Familie verstoßen und lebt völlig verarmt auf der Straße. Von Ärzten wird er als vermeintlich unheilbar Kranker ignoriert, weil diese fürchten, ihre übrige Klientel zu verlieren. Dieser Mann, der eigentlich selbst am meisten Hilfe bräuchte, fragt die junge weiße Touristin, ob er ihr irgendwie helfen könne. Diese eindrucksvolle Begegnung bewegt Stella, ihr Studium in Rom abzublasen und in Indien zu bleiben, um den Leprakranken dort zu helfen.
Eines Tages werden die Unberührbaren einfach wegen Bettelei in einem vergitterten Wagen zusammengepfercht und in Richtung Gefängnis abtransportiert. Kurzerhand springt Stella mit auf den Wagen auf und fährt gegen den Willen der Polizei mit den Gefangenen mit. Fortan setzt sich die Deutsche aktiv für deren Entlassung ein. Weder der Bürgermeister, noch der oberster Richter noch das Magistrat wollen ihr dabei helfen. Erst ein Zeitungsartikel, in dem Stella in einem Interview zu Wort kommt, erregt genug Aufmerksamkeit in Indien und damit offenbar genug öffentlichen Druck, sodass die Bettler nach drei Monaten endlich freigelassen werden.
In der Zwischenzeit hat die Deutsche auf der Basis von 100 Dollar und mit der Unterstützung einer westlichen Krankenschwester eine „Straßenklinik“ für Leprakranke und ihre Kinder gegründet. Die Straßenklinik holt die Männer zwar nicht von der Straße, aber die Leprakranken bekommen jetzt erstmals Zugang zur Multi-Drug-Therapy (MDT), zur regelmäßigen Arztvisite und zu Hilfsmitteln wie Spezialschuhen, Sehhilfen, Prothesen oder Rollstühlen. Nach zwei Jahren sind die ersten 60 Patienten geheilt.
Hilfe zur Selbsthilfe
1996 gründet Stella dann den gemeinnützigen Verein “Back to Life e.V. – Hilfe zur Selbsthilfe in Nepal und Indien“. Der Umfang ihres Engagements wächst damit über die Grenzen der Stadt Benares hinaus und erweitert sich auch auf Straßenkinder. Über die letzten Jahre hat sie es, auch mithilfe freiwilliger Helfer*Innen und lokaler Partner-Organisationen, geschafft, in verschiedenen Distrikten Nepals mehrere Kinderheime, über ein Dutzend Slum-Schulen und sechs Geburtshäuser zu errichten. Die Mutter- und Kindersterblichkeit in Nepal ist eine der höchsten der Welt, weil die Geburten meist in Tierställen stattfinden müssen. In den deutlich hygienischeren Geburtshäusern wurden mittlerweile schon 550 Kinder sicher zur Welt gebracht.
Die gezielten Förderungen des Vereins in Indien und Nepal beziehen sowohl soziale als auch medizinische und landwirtschaftliche Aspekte mit ein und sind so ausgelegt, dass die Einheimischen befähigt werden, sich (langfristig) selbst zu helfen. Irgendwelche Hilfsaktionen über die Köpfe der Betroffenen hinweg zu administrieren, das will Stella vermeiden. Dem Motto “Hilfe zur Selbsthilfe”, ist auch 2015, nach einem verheerenden Erdbeben in Nepal, bei dem 9000 Menschen umkamen, treu geblieben. Es wurden zwar auch Wohnhäuser zerstört, Nutztiere getötet und wichtiges Saatgut vernichtet, aber die Befragung der Einheimischen hat gezeigt, dass diese den Wiederaufbau der 30 000 zerstörten Klassenräume als oberste Priorität betrachteten. Also hat Stellas Verein, neben der nötigen Soforthilfe, sich daran gemacht, die Schulen in der Region wieder aufzubauen. 2017 fand dann endlich, nach einigen behördlichen und wetterbedingten Hindernissen, die Einweihung der neuen Schulgebäude statt.
Insgesamt konnten bis heute über 45 000 Menschen, darunter mindestens 7 700 Schüler*Innen, von Back to Life e.V. profitieren.
Jahrelang war Stellas Hauptwohnsitz in Indien. Sie hat Hindi gelernt, ihr Verhalten und ihre Kleidung der Kultur angepasst und ihren (mittlerweile erwachsenen) Sohn Cosmo ganz normal auf eine indische Schule gehen lassen. Heutzutage pendelt die Entwicklungshelferin zwischen Nepal und Deutschland. Hierzulande sammelt sie unermüdlich Spenden für ihre Hilfsprojekte und ist öfters in verschiedenen Radio-Sendungen und Fernseh-Talkshows zu Gast, um dort auf die Arbeit von Back to Life e.V. aufmerksam zu machen.
Als sie Ende 2017 mal wieder bei “Tietjen und Bommes” im NDR zu Gast war, wurde sie gefragt, wie es sich denn so lebt als Frau in Indien. Schließlich herrscht dort immer noch ein viel problematischeres Frauenbild vor als in Deutschland. Und natürlich, so antwortet Stella im Interview, musste sie die Diskriminierung der Frau nicht nur am eigenen Leib erfahren, sondern auch oft genug die gewaltsamen Unterdrückung der einheimischen Frauen machtlos mit ansehen.
“Das war das Schmerzhafteste. Mit Elend, mit Armut kann ich umgehen, denn da hab’ ich ‘ne Lösung, da weiß ich was ich tun kann. Ich hab’ auch keine Angst vor Leprakranken oder Ausgestoßenen. Aber diese Männergewalt gegen junge Frauen oder überhaupt Frauen ist unerträglich…”
Tara
Sie sei, so sagt sie selbst, eine ganz normale Frau. Doch ich finde, dass Stella Deetjens grenzenloses Vermögen zu Nächstenliebe und Anteilnahme doch schon etwas Besonderes ist. Bei der Recherche zu Stellas Beinamen “Tara” habe ich übrigens herausgefunden, dass das Wort aus dem Sanskrit stammt und im Hinduismus für eine Heilgöttin steht, die alle, selbst die unheilbaren Krankheiten, zu heilen vermag. Und im Buddhismus stammt das Wort von der Göttin des Mitgefühls. Passend, nicht wahr?
Juliane Hentschel
Opper,Maria meint
Ich würde Stella auf der Stelle “heilig sprechen”, denn so viel Nächstenliebe ist
fast “unerträglich” berührend, und ich stelle mir mit 65 Jahren die Frage, was habe
ich bisher für andere, wirklich bitterarme,Menschen getan.
Leonada meint
Stella Deetjen du bist schlau